Das geheime Bild
Schule. Das eine Mal, als sie zu einem Elternabend kam, musste ich mich mit Eltern befassen, die enttäuscht waren, dass wir den Genius ihres Sohnes noch nicht erkannt hatten.« Dies sagte er mit amüsierter Miene. »Doch es ist ungewöhnlich, so wenig Kontakt zum Zuhause zu haben. Sie hat tatsächlich heute Morgen angerufen, um sich nach Olivia zu erkundigen, aber dem Kind geht es inzwischen schon so viel besser, dass ich sie wirklich nicht auffordern wollte, herzukommen und ihre Nichte mit nach Hause zu nehmen. Also wird Olivia während der Ferien hierbleiben.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich sollte rübergehen und nach ihr sehen.«
»Lass mich das machen.«
Mein Vater sah mich zweifelnd an.
»Ich werde ihr nicht zusetzen, Dad.«
»Du solltest das Thema nicht ansprechen, solange kein anderer dabei ist.« Er hatte wieder auf Schuldirektor umgeschaltet. »Es ist eine Disziplinarangelegenheit, da muss alles korrekt ablaufen. Zumal, wenn sie sich selbst Verletzungen zufügt. Das ist eine Aufgabe für Cathy, Meredith. Du musst aufpassen, dass du dich nicht zu sehr reinhängst.« Es war der Vorwurf, den ich im Geiste auch Emily gemacht hatte: zu viel Nähe zu einem Schüler.
»Ich werde das Thema nicht anschneiden. Und ich werde auch den Schnitt am Arm nicht erwähnen.«
Als ich das Büro verließ, saß mein Vater noch immer an seinem Schreibtisch und starrte den Computerbildschirm an, als könnte dort etwas geschrieben stehen, was die Fakten änderte. Aber ich konnte nicht erkennen, dass an dem, was geschehen war, Zweifel angezeigt waren. Olivia hatte damit zu tun.
Als ich das Haus erreichte, erzählte mir die zuständige Betreuerin, dass Olivia darauf bestanden hatte, zur Theaterprobe zu gehen. »Ich war mit der Wäsche beschäftigt und fand bei meiner Rückkehr diesen Zettel auf dem Tisch.«
»Bin zur Probe«, lautete die Nachricht. »Nur für meine Szene.« Die Lehrerin wirkte besorgt. »Was sollten wir tun?«
»Sie ist dort unter Aufsicht«, sagte ich. »Wenn ein Problem auftauchen sollte, ist sie dort nicht allein. Aber ich werde rübergehen und sie zurückbringen, sobald sie die Szene beendet hat.«
Der Sechstklässler, der in Hexenjagd den Richter Hathorn e spielte, war so unerbittlich, dass ich mich dabei ertappte, beim Verfolgen der Szene meine Fäuste zu ballen. Jenny nickte beifällig. »Ich spüre immer mehr die Leidenschaft hinter diesem Stück«, teilte sie der Besetzung mit, als man für eine Pause unterbrach. »Aber einige von euch müssen sich erst noch hineinarbeiten. Und sich Gedanken darüber machen. Über den Terror, die Hysterie. Den blanken Wahnsinn, der dort ausbricht. Und erinnert euch, dass es gleichzeitig in ganz Europa und sogar in Russland zu Ereignissen kam, die denen in Salem ähnlich waren. Man konnte aufgrund gefälschter Anklagen verhaftet und ohne einen Beweis der Schuld verurteilt werden. Und hart bestraft werden. Natürlich griff in der Zeit von Millers Amerika die Angst vor dem Kommunismus um sich, davor, dass die Roten sich unter den Betten versteckten.«
Olivia Fenton hörte ernsthaft zu, ihr Gesicht wirkte verschlossen und ausdruckslos. Sie machte den Eindruck, vollkommen wiederhergestellt zu sein. Nur der Arm in der Schlinge und ein Mal an ihrem Kopf verrieten, dass sie einen Unfall gehabt hatte.
»Außerdem solltet ihr Folgendes bedenken«, ergänzte Jenny. »Es braucht nur ein oder zwei Leute, die sich weigern, das Spiel mitzuspielen, sich weigern, ihre Nachbarn mit hineinzuziehen, und die ganze Sache fällt in sich zusammen. Richter Hathorne weiß dies: Das ist eine der Schwächen seiner Strategie. Ich würde gerne mehr Reaktionen bei denen sehen, die dem Gerichtsverfahren beiwohnen. Als würdet ihr eure Meinung ändern, während ihr den verschiedenen Charakteren zuhört. Wir wollen Gefühle sehen: Zweifel, Wut, Angst.«
Olivia kam von der Bühne. Sie sah mich und errötete. »Ich wollte nur meine Szene spielen.«
»Du solltest dich ausruhen. Du hattest eine schlimme Kopfverletzung. Komm jetzt mit mir zurück ins Haus.«
»Ich habe ein Auge auf Olivia.« Ich hatte Emily bisher nicht bemerkt. Jetzt stand sie neben Olivia.
»Sobald du fertig bist, gehst du zurück.« Ich ging nicht auf Emily ein. »Und Olivia …«
Sie nickte. »Ich weiß. Ich hätte fragen sollen, bevor ich hierherkam. Es tut mir leid, Mrs. Cordingley.«
Emily verfolgte angespannt unseren Wortwechsel. Sie nahm also weiterhin an den Proben teil, obwohl ihre Rolle die der Garderobiere
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