Das geheime Bild
verkrampfte sich mir der Magen. Da floss so viel Blut in der Provinz Helmand, und dennoch fügten sich Leute freiwillig Verletzungen zu. Ich versetzte mich in die Zeit, als ich selbst ein Teenager war: Druck vonseiten der Schule und dem sozialen Umfeld, die Unsicherheiten – ich sollte nicht so voreingenommen sein. Olivia war hübsch: Mir fiel auf, dass die Jungs sie beobachteten, als sie auf der Bühne stand. Unter ihrem unförmigen Pullover konnte man eine schlanke, aber doch wohlgeformte Figur erkennen. Sie hatte volles braunes Haar, und ihr zwar blasses Gesicht hatte feine Züge und war perfekt proportioniert mit hohen Wangenknochen und diesen auffälligen grauen Augen. Auch Emily beobachtete sie mit leicht gerunzelter Stirn.
Ich wünschte mir, wir hätten bereits Herbstferien. Was immer sich in dieser Turnhalle entwickelte, es streckte seine Fühler nach mir aus. Begreifen konnte ich es nicht, aber es gefiel mir nicht. Die noch verbleibenden achtundvierzig Stunden konnten für mich nicht schnell genug vorübergehen.
20
D er erste Morgen der Herbstferien. Ich lag im Bett und ließ die Schatten der Vorhänge über mein Gesicht wandern. Friede. Samson schlummerte neben mir in seinem Korb. Bald schon würde er ins Freie gelassen werden wollen, es war schon fast acht Uhr. Aber fünf Minuten konnte ich es noch genießen, bevor …
Mein Mobiltelefon meldete sich mit einem Ton, den ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Ich streckte den Arm aus und nahm es vom Nachttisch, fast unsicher, was das Zweitonklingeln bedeutete. Neue Mitteilung. Es gab für mich hier kaum Nachrichten zu verschicken oder zu empfangen, da jeder, den ich sprechen musste, in greifbarer Nähe war. Ich öffnete die Nachricht, und der Name des Senders ließ mich kerzengerade aufsitzen. Hugh. Habe gerade daran gedacht, wie es dir wohl gehen mag. Sorry, geht mich ja nichts an. Nunmehr.
Ich schaltete mein Mobiltelefon mit zitternder Hand aus. So hatte ich mir den Start in meinen ersten Ferientag nicht vorgestellt. Ich hatte mir Ruhe und Gelassenheit versprochen: einen langen Spaziergang mit dem Hund, ohne dabei ständig auf meine Uhr schauen zu müssen. Mittagessen im Pub mit Simon und dann Durchsicht von Mums Kleidern, wie ich es Dad versprochen hatte. Am frühen Abend dann vielleicht ein Kinobesuch, sofern die vorangegangenen Strapazen mich nicht zu sehr erschöpft hatten. Kommunikation mit meinem Ehemann hatte nicht auf meiner Liste gestanden. Ich stand auf und erledigte meine morgendlichen Aufgaben, doch meine Stimmung war im Keller, obwohl ich mich dazu zwang, lange und heiß zu duschen, anstatt mich wie an Arbeitstagen zu beeilen. Ich musste auf diese Textnachricht antworten. Musste mein kompliziertes Gefühlsgeflecht entwirren, das mich daran hinderte, mich dieser Aufgabe ohne Umschweife zu widmen. Aber zuerst wollte ich mich vergewissern, ob Dad nicht meine Hilfe bei den Vorbereitungen der Aufnahmeprüfungen benötigte.
Ich hatte fest damit gerechnet, heute die Erleichterung zu verspüren, die ich als Kind empfand, wenn ein Trimester zu Ende war, die Schüler alle heimgekehrt waren und wir Letchford wieder für uns hatten. Für die Dauer von einer oder vier oder acht Wochen konnten Clara und ich auf den Treppengeländern herunterrutschen und zu jeder Tageszeit nach Belieben Lärm machen. Aber als ich mich den Rasenflächen vor dem Haus näherte, wirkten sie einsam und verlassen. Ich brachte den Hund in die Wohnung und ging dann hinüber zum großen Haus. Die Stille drückte schwer auf meinen Kopf. Als ich durch die Eichentüren eintrat, sehnte ich mich fast danach, das Geschrei einer sich nähernden Schulklasse zu hören, die gerade vom Sportunterricht im Freien zurückkehrte, das leise Lachen der Sechstklässlerinnen, die auf ihrem Weg ins Kunstatelier über die Terrasse glitten.
Die Abwesenheit der Schüler hatte die schützende Membran zwischen uns und den im Haus geschichteten Erinnerungen aufgelöst. Jetzt merkte ich, wie sehr ich mich von der Realität, dass meine Mutter tot war, hatte ablenken lassen. Tut mir leid, sagte ich im Stillen zu ihr. Anstatt nach Oxford zu fahren, sollte ich den Nachmittag vielleicht in ihrem Garten verbringen und all die Dinge erledigen, für die der Schulgärtner keine Zeit hatte: verblühte Rosen abschneiden und Blätter zusammenrechen. Ich könnte die letzten Astern pflücken und auf ihr Grab legen.
Ihr Grab. Es kam mir so bizarr vor, dass sie auf dem Kirchhof lag. Sie müsste doch eigentlich oben
Weitere Kostenlose Bücher