Das geheime Bild
in der Wohnung sein und bei den Vorbereitungen der Aufnahmeprüfungen helfen.
Schritte hinter mir ließen mich zusammenzucken. Ich drehte mich um und sah Olivia Fenton in der Tür stehen.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Cordingley, ich wollte mir nur etwas Brot aus der Küche holen. Drüben im Haus ist keines mehr.«
Ich fragte mich, ob ihre Tante ihr bereits von meinem Besuch an ihrem Arbeitsplatz erzählt hatte. Der Arbeitsplatz, den sie als Olivias Zuhause ausgegeben hatte.
»Bedien dich.« Ich hoffte, entspannt zu wirken, wie ein Lehrer, der Ferien hatte. »Was hast du denn für heute geplant, Olivia?«
»Emily geht später mit mir einkaufen.«
»Das ist nett.« Wenn ich das nur ernsthaft behaupten könnte. Olivia zuckte mit den Achseln und wirkte unsicher. Ich überlegte, ob sie viel Geld hatte, um es für Kleider und Accessoires auszugeben. Ihre Tante arbeitete hart, daran gab es keinen Zweifel, aber wenn sie für sämtliche Schulgebühren selbst aufkam, musste sie von Luft leben. »Hast du was von … zu Hause gehört?«, fuhr ich fort. »Vermutlich wissen sie, dass es dir wieder besser geht?«
Sie konzentrierte sich auf einen unsichtbaren Fleck auf dem Marmorboden. »Ja.«
»Olivia …«
Sie hob ihren Blick, ihre Schultern waren wieder verspannt.
»Hat deine Tante dir erzählt, dass ich mit ihr gesprochen habe? Dass ich sie vor ein paar Tagen in dem Haus aufgesucht habe, wo sie … wohnt?«
Sie riss die Augen auf. »Sie hat mir nichts gesagt«, murmelte sie. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und steuerte die Küche an.
»Olivia!«, rief ich ihr hinterher. Sie blieb stehen. »Ich bin noch nicht fertig.«
»Entschuldigung, Mrs. Cordingley.« Sie ließ den Kopf hängen.
»Ach, nun geh schon.«
Ich hätte besser nichts gesagt. Dann machte ich mich auf den Weg zur Wohnung meines Vaters. An die geänderte Terminologie konnte ich mich noch immer nicht gewöhnen. Es war nicht mehr das Heim meiner Eltern, nur noch das meines Vaters. Ich klopfte an, und er rief, ich solle eintreten. Er hielt sich in seinem Büro auf, vor sich offene Akten. Neben ihm ein Fetzen Papier. Er hatte gezeichnet: eine Gestalt, die aus Bäumen auftauchte oder in ihnen verschwand. Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, und rechnete damit, dass er die Zeichnung beiseiteschob oder unter einer der Akten versteckte, aber das tat er nicht.
»Ich ertappe mich in letzter Zeit immer öfter dabei«, sagte er. »Anfangs schämte ich mich fast dafür, als wäre es eine schlechte Angewohnheit. Deine Worte, dass ich wieder Kunst unterrichten sollte, haben mich nachdenklich gemacht. Unterrichten möchte ich nicht. Aber ich möchte das Zeichnen wieder zulassen.«
Zulassen . Eine interessante Formulierung.
»Als Junge habe ich ständig gezeichnet.«
»Hast du damals noch auf dem Land gelebt?« In dem Haus mit den Holzfensterläden in den böhmischen Wäldern. Ich wollte mir die Skizze genauer ansehen, aber da sie sehr klein war und der Block verkehrt herum lag, konnte ich nicht erkennen, wonach es aussah.
»Ja, genau. Die Leute, die bei uns ins Haus einzogen, waren nicht … verständnisvoll. Deshalb habe ich als Junge meine Zeichensachen immer mit in den Wald genommen.«
Ich schielte auf seine Skizze. Bäume, dunkel und Unheil verkündend. Eine schmale Gestalt unbekannten Geschlechts, die hinter einer Kiefer hervorlugte. »Wer ist das?«, fragte ich.
»Ein Geist«, sagte er lächelnd und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Was führt dich zu mir, Meredith?«
»Nichts Besonderes. Ich wollte mich nur vergewissern, ob für die Aufnahmeprüfungen alles vorbereitet ist.«
»Samantha hat alles organisiert.« Er klopfte auf den Aktenstapel. »Sie wird morgen hier sein.« Er sah mich an, als wollte er mir die Erlaubnis erteilen, ihn zu verlassen und meinen freien Tag zu genießen.
»Ich habe Olivia gerade gesehen. Ich mache mir noch immer Sorgen um sie.«
»Es schien ihr gut zu gehen, als ich sie vorhin sah. Emily kümmert sich um sie.« Er zog eine Braue hoch. »Obwohl das vielleicht der Grund ist, weshalb du dir Sorgen machst?«
»Genau.«
»Wir können nicht viel tun. Olivias Tante kann sie während der Ferien nicht zu sich nehmen, und es hat sie auch niemand sonst zu sich eingeladen.« Ich verspürte Mitleid mit Olivia. »Also sollten wir dankbar sein, dass Emily sich ihrer annimmt.«
»Das Ritzen, die Selbstverletzungen …«
»Scheinen aufgehört zu haben.« Er sah mich forschend an.
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