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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliza Graham
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auf den Straßenrand und sah es da stehen, das junge Paar: er flehend, beschwörend, sie, wie sie den Kopf in ihre Hände sinken ließ.
    Karel
    H ana legte ihren Kopf in ihre Hände und fing zu weinen an. Noch nie zuvor hatte er sie weinen sehen. Er würde sie nach Prag oder für die Nacht wenigstens zu Mama zurückbringen.
    »Wir werden warten, bis du dich besser fühlst. Was hältst du davon, noch einen Tag zu warten? Die Russen sind noch nicht hier.«
    Sie blickte auf und starrte ihn an, als suche sie etwas an ihm. Es war ein langer Blick. »Was ist?«, fragte er.
    Sie legte eine Hand auf den Mund. »Ich muss …« Sie erhob sich langsam und schlurfte ins Dunkel des Waldes, ließ ihre Tasche und ihr Fahrrad zurück. Als sie etwa zwanzig Meter weit gelaufen war, drehte sie sich um. »Mach dir um mich keine Sorgen, Karel.« Sie hörte sich wieder kräftiger an. Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war fast so strahlend wie sonst. Er sah ihr nach, als sie ins Dunkel eintauchte. Büsche raschelten, und er hörte das Knacken eines Zweiges. »Alles in Ordnung mit dir?«, rief er ihr nach.
    Sie erwiderte etwas darauf. Er verstand nicht alles, aber er hörte sie sagen, er solle warten. Dann wurde er von Panik erfasst. Sie könnte in Ohnmacht gefallen sein, könnte irgendwo bewusstlos im Unterholz liegen. Er stand auf und folgte ihr in den Wald. Weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Laut rufend lief er noch etwa eine Stunde lang umher. Einmal dachte er, sie zwischen den Bäumen huschen zu sehen, aber das konnte er sich auch eingebildet haben. Oder vielleicht war es ein durchs Unterholz flüchtendes Reh. Büsche raschelten, und er wirbelte herum in der Erwartung, dass sie hinter ihm auftauchte. Doch da war nichts.

30
    Meredith
    S ie hat dich verlassen? Ich sprach die Worte nicht aus, sie blieben in meinem Kopf.
    »War sie das Mädchen auf dem Wandgemälde?«, fragte ich stattdessen.
    Er nickte.
    Ich brauchte die Frage eigentlich nicht zu stellen. Er hatte versucht, sie zu vergessen, was ihm wohl auch die meiste Zeit gelungen war, aber dann war sie wieder in sein Bewusstsein getreten, und er hatte sie an die Wand gemalt. Doch nur, um sie wieder zu übermalen. Keiner hätte gewusst, dass sie da war, hätte ich nicht vor all den Jahren die Farbe abgekratzt und sie freigelegt. Was sagte meine Mutter dazu? Hatte sie Dad dazu befragt?
    »Aber du hast nach ihr gesucht?«
    »Ja.«
    »Und nie wieder etwas von ihr gehört?«
    »Nein. Als ich in Abingdon war, versuchte ich, an ihre letzte Adresse zu schreiben, wo sie gewohnt hatte, bevor wir Prag verließen. Aber ich bekam nie eine Antwort. Vielleicht kam der Brief nicht durch zu Hana. Vielleicht bekam sie ihn aber auch, und ihre Antwort hat mich nicht erreicht. Oder vielleicht …« Er warf den Motor an.
    Vielleicht wollte sie auch einfach nicht antworten. Vielleicht waren ihre Gefühle für ihn einfach nicht so stark gewesen wie seine für sie. Oder ihre Angst davor, die Grenze zu überschreiten, hatte sie zurückgehalten. Ich stellte ihn mir vor, wie er entlang der Themse-Auen bei Abingdon gelaufen war und sich mit Blick aufs Wasser gefragt hatte, was aus ihr geworden war. Der Raum zwischen mir und meinem Vater schrumpfte, je mehr mein Mitgefühl für ihn wuchs.
    »Wir sollten jetzt nach Prag zurückfahren.« Er klang wieder ganz wie er selbst, war wieder in der Rolle des selbstsicheren Schuldirektors.
    »Warum müssen wir uns so hetzen?« Es war mir nicht gelungen, ihn dazu zu überreden, länger als nur den Montag, den ersten Schultag nach den Herbstferien, von Letchford wegzubleiben. »Haben wir noch Zeit, das Grab deiner Mutter zu besuchen?«
    »Sie ist nicht hier begraben. Als sie das Haus verlor, zog sie in den Norden des Landes, wo sie eine Stelle als Hilfskrankenschwester in einer Industriestadt an der polnischen Grenze annahm. Dort ist sie auch begraben. Meinen Vater hat man in der Nähe des Arbeitslagers begraben, wo er starb.«
    Ich sagte nichts. Die Anziehungskraft dieses mir unbekannten tschechischen Teils meiner Familie wurde zunehmend stärker. Ich würde gern mehr über meine Großmutter und meinen Großvater erfahren.
    »Wir werden zurückkommen, Meredith. Das verspreche ich dir. Wir werden Blumen auf die Gräber deiner Großeltern legen. Nachdem ich jetzt einmal zurückgekehrt bin, möchte ich wieder herkommen.« Er sprach mit neuer Festigkeit im Ton.
    »Könnten wir wenigstens einmal kurz an die Grenze fahren? Ohne sie zu überqueren, meine ich? Nur zum

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