Das geheime Bild
Schauen!«
»Warum nicht?«
Das gab uns Zeit zum Nachdenken. Wir blieben etwa hundert Meter vor der Grenze stehen. Es war still, zu zeitig am Morgen, als dass schon viel Verkehr gewesen wäre. Da es nur ein kleinerer Übergang war, fehlte hier der deutliche Unterschied zwischen den Ländern, den man an den anderen Übergängen nach Deutschland sehen konnte. Soweit ich das beurteilen konnte, sahen die Bäume vor uns nicht anders aus als die Bäume hinter uns. Ein schwarzer BMW mit deutschem Nummernschild fuhr an uns vorbei, darin ein lachendes älteres Paar. Vielleicht auf Besuch im Zuhause ihrer Kindheit. In Erinnerungen schwelgend. Mit einer Vergangenheit, der man sich leicht stellen konnte, weil sie so unschuldig war. Wir blieben sitzen und betrachteten den Wald.
»Es gibt noch eine Sache, für die uns in Prag Zeit bleibt, bevor wir wieder abfliegen.«
Ich wandte mich fragenden Blicks an ihn.
»Es ist schwer zu erklären. Aber es könnte dort noch jemand am Leben sein, jemand, den ich besuchen sollte.«
»Hana?«
Er strich mit seinen Fingern über das Lenkrad. »Ich habe allerdings nur die Adresse ihrer Cousine. Die ist womöglich schon vor Jahren gestorben oder weggezogen.«
Ich fragte mich, ob er Hana wohl geheiratet hätte, wenn sie die Reise in den Westen mit ihm fortgesetzt hätte. Ich dachte an meine Mutter und biss mir auf die Lippe. Hätten Dad und Hana ihre Reise gemeinsam fortgesetzt, gäbe es mich nicht. Angesichts dieser Parallelgeschichte schien mein Leben auseinanderzubrechen. Mich nicht. Clara nic ht. Kein Telefon, das in jenem Haus der Armee läutete, um mich darüber zu informieren, dass mein Ehemann bei einer Explosion verunglückt war. Es gab mich, weil ein Mädchen es sich auf dem Grünstreifen einer stillen tschechischen Straße anders überlegt hatte.
Es gab so viele Fragen, aber sie blieben an meinen Lippen kleben und wollten sich nicht an Worte binden. Ich saß da und beobachtete den Verkehr auf den Straßen, die uns zur Autobahn nach Prag brachten. Wir fuhren fast schweigend, Dad erzählte mir nur kurz etwas von Pilsen, als wir daran vorbeifuhren, und einmal hielten wir an, um zu tanken und einen Kaffee zu trinken. Als wir die südwestlichen Vororte von Prag erreichten, verdüsterte sich Dads Gesicht. »Es sieht so anders aus, mit all den modernen Hochhäusern. Und es ist viel mehr Verkehr.«
»Waren die Panzer denn schon angerückt, als du weggingst?« Ich stellte mir das Dröhnen ihrer Gleisketten auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt vor, die Leute, die mit handgeschriebenen Schildern nach draußen liefen und die Soldaten anflehten umzukehren.
»Ja. So viele, dass kein Zweifel daran bestand, wie ernst es die Sowjets meinten. Doch wir warteten nicht ab, um zu hören, ob noch mehr Truppen unterwegs waren. Sie hatten zum damaligen Zeitpunkt bereits die Kontrolle über den Flughafen.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Straßen und Gebäude. »Ich glaube, ich erinnere mich, wo wir jetzt sind.«
Die Leute der Leihwagenfirma hatten uns einen Stadtplan von Prag und seinen Vororten mitgegeben, und ich entfaltete ihn.
Nachdem wir an der Ringstraße einmal in die falsche Richtung abgebogen waren und nach ein paar weiteren kleineren Fehlern, hielten wir vor einer barocken Kirche in einem Vorort westlich der Moldau an; ich hatte es aufgegeben herauszufinden, welche genau es war. Dem Straßenbild nach zu urteilen schien es mit diesem Viertel hier aufwärtszugehen. Es gab Anzeichen gestiegenen Wohlstands, obwohl man noch viele schwarz gekleidete ältere Frauen und alte Autos sah.
Dad schaltete den Motor aus. »Die letzten paar Hundert Meter gehen wir zu Fuß. Ich ging zu dieser Wohnung immer nur zu Fuß. Die nächste Trambahnhaltestelle lag einen guten Häuserblock weit entfernt. Ich werde mich besser zurechtfinden können, wenn wir laufen.«
Er hatte mir bereits früher einmal erzählt, dass Autos in seiner Jugend sehr selten waren. Ich stellte ihn mir als einen schlaksigen jungen Mann vor, der loszog, um nach den Vorlesungen seine Freundin zu treffen. Oder sie vielleicht nach einem Abend in den Bierkellern nach Hause begleitete. Oder in eins der Kinos, wo Avantgardefilme gezeigt wurden. Ich sah ihr langes, im Mondlicht schwingendes Haar, ihr buntes Tunikakleid, hörte das Lachen jener Frau, deren Existenz im Leben meines Vaters einen so tiefen Eindruck hinterlassen hatte, dass er sie an die Wand des Familiensitzes seiner Frau gemalt hatte.
An einer Straßenecke blieb er mit fragendem
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