Das geheime Kind
Fernsehmaler ein. Heide hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Wenn der Mann auf Englisch erklärte, wie man einen Baum mit ein paar Pinseltupfern hinbekam, war Raupach glücklich und zufrieden. »These things live in your fan brush, you only have to shake them out.« Die Zuversicht, die der Maler vermittelte, seine entspannte Selbstsicherheit trotz einer hoffnungslos veralteten Afrofrisur, hatte dem Kommissar schon über manche Krise hinweggeholfen.
Der DVD-Spieler arbeitete sich durch die Kopierwarnung und suchte nach dem Hauptmenü. Raupach streckte sich auf seiner Schlafcouch aus. Er war froh, dass Heide die Babyleiche übernahm. Dadurch konnte er sich ganz dem Fall Wintrich widmen. Und es zögerte ihre Kündigung hinaus. Wenn Heide den Schuldigen fand, hörte sie vielleicht auf, sich selbst unter Druck zu setzen und dachte noch einmal in Ruhe über ihren Entschluss nach.
Momentan war sie völlig durch den Wind. Sie stellte alles in Frage, an eine feste Beziehung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Nach der Schmusenummer in der Heckenrose hatte sie sofort wieder die Krallen ausgefahren. So machte sie es häufig mit den Männern. Erst öffnete sie sich, dann ging sie in Abwehrhaltung, um sich ja keine Blöße zu geben.
Raupach hoffte, dass die paar Küsse sie wenigstens auf andere Gedanken brachten. Ihm persönlich hatte es gutgetan, einfach mal loszulassen und die üblichen Bedenken in den Wind zu schlagen. Er fühlte sich erleichtert und hatte den Eindruck, dass es ihr ähnlich gegangen war. Positive Energie. Warum nahm sie nicht ein wenig davon mit, als stille Reserve, um gegen Belastungen besser gewappnet zu sein? Sie konnten sich beide eine Menge geben, und sei es nur zum Selbstschutz, Pistolen waren dafür ungeeignet.
Mit der Babyleiche hatte sich Heide eine ganz spezielle Last auf die schwielige Seele geladen. Die Leute stumpften zwar mehr und mehr ab, doch Kindsmord – falls es einer war – galt nach wie vor als Schandtat, als unbegreifliche Abnormität. Fast immer fehlte ein plausibles Motiv. Irgendeine »Überreaktion« wurde zur Begründung herangezogen, und genau davor hatten die Menschen Angst. Wenn es schon schuldlose Kinder traf, dann konnte jeder zum Opfer werden. Die Medien sprachen nur aus, was alle dachten. Kollektive Bedrohungen waren ein zuverlässig wirkendes Gift.
Das Ganze enthielt noch eine Steigerung: War man denn selber vor Überreaktionen gefeit? Wer neigte nicht zu gelegentlichen Unbeherrschtheiten, unter Stress, akuter Erschöpfung – Raupach brauchte sich ja nur Heide anzusehen. Ein Kindsmord rief in Erinnerung, welche Dramen sich tagtäglich mit Kindern abspielten, Gewaltausbrüche, Misshandlung, Vernachlässigung. Und er stellte eine Gelegenheit dar, sich davon zu distanzieren und die dunklen Triebe entrüstet anderen zuzuschreiben.
In gewissem Sinne fiel der Mord in der Heckenrose in eine ähnliche Kategorie. Es hieß doch, Betrunkene und Kinder hätten einen Schutzengel. Der hatte bei Otto Wintrich offenbar versagt. War der Mann seinem Mörder nur auf die Nerven gefallen wie ein schreiendes Baby? Es brauchte nicht immer die großen, spektakulären Klammern. Tote zogen sich gegenseitig an.
Raupach gähnte. Er durfte seine Gedanken nicht ins Endlose weiterrattern lassen, sonst würde ihm nach dem Aufwachen der Schädel brummen. Und er brauchte etwas Schlaf, um sich nicht in Spekulationen zu verlieren. Also startete er eine Folge von »The Joy of Painting«.
Vor Beginn der Sendung hatte der Fernsehmaler Kontaktpapier auf die Leinwand geklebt. Es ließ einen großen ovalen Ausschnitt frei, in dem bereits eine weiße Grundierung aufgebracht worden war. Nach Fertigstellung des Gemäldes wurde das Kontaktpapier wie eine Folie abgezogen. Dadurch erhielt man ein ovales Bild mit sauberen Rändern.
Vielleicht lag es an diesem billigen Trick, dass Raupach plötzlich maßlos enttäuscht war. Seine Sympathie für den Fernsehmaler schlug in Unmut um. Schon wieder eine Gebirgsszene. Melodramatischer Himmel, schneebedeckte Bergkette, ein See mit Grünzeug außenrum. Fiel dem Kerl nichts anderes ein?
Die Bilder kamen Raupach nicht mehr drollig oder verschroben vor. Er sah sie als das, was sie im Grunde waren, anspruchsloser, am Fließband fabrizierter Kitsch, keine Kunst. Die Sendung diente einzig der Unterhaltung. Sie suggerierte den Leuten, einen Ausschnitt der Welt in einer überschaubaren Zeit unter Kontrolle zu bekommen. Wie bei diesen Kochshows, da war es
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