Das geheime Kind
auf der erhöhten Molenstraße standen, war schon von weitem zu sehen, ebenso Höttges. Ausgenüchtert nach dem Tütentünn-Auftrag, aber mit leerem Magen, weil er sich beim Anblick der Leiche wieder mal übergeben hatte, nahm er Heide und Raupach in Empfang und führte sie die Böschung des Dammes hinunter. Halogenscheinwerfer beleuchteten den Fundort, ein Rumpfteam der Spurensicherung wies den Ermittlern einen markierten Zugang an.
Die Kollegen von der Nachtschicht sahen mitgenommen aus, auch Dresen, der Einsatzleiter. Er winkte gleich ab und betrachtete schweigend das gegenüberliegende Rheinufer. Die Mordkommission sollte sich selbst ein Bild machen.
Es war kurz vor zwei. Heide stapfte durchs Gras, als müsse sie jeden Halm einzeln zertreten. Eine absurde Nacht. Daran war Raupach schuld. Für ein paar Minuten hatte sie tatsächlich geglaubt, es könne noch etwas werden mit ihnen beiden. Dass er sie mit all ihren Fehlern mochte und mehr als das, dass er ihr bedingungslos vertraute.
Falsch gedacht.
Zugelabert hatte er sie, einen auf Heideversteher gemacht, den Rost abgekratzt, die älteste Tour der Welt. Und warum? Weil Photini endlich erwachsen wurde und sich ihm entzog. Raupach hatte das getan, was alle Männer bei Bedarf machten: im Ersatzteillager gekramt und was Passendes eingesetzt.
Der Anblick des toten Kindes löschte diese Gedanken.
Heide hatte mit vielem gerechnet, die Menschen waren Bestien, von außen und von innen. Aber ein Baby, nein, ein Säugling in einer Sporttasche, liegengelassen wie ein lästig gewordenes Gepäckstück, das war so schlicht und so kalt, dagegen half nichts, keine Glock, kein Kevlar, nicht mal Worte.
Der Fluss war etwa dreißig Meter entfernt. Das Murmeln der unsichtbaren Wellen hatte schon manchen verzweifeln und merkwürdige Dinge sehen lassen. Tatsächlich wirkte es so, als sei das Kind in der Tasche wie in einer Wiege zum Schlaf gebettet worden, die Augen fest geschlossen, die Haut faltig und an einigen Stellen noch rosig. Es war in eine Decke gewickelt, sorgfältig, kein Stoffzipfel schaute aus dem kompakten Bündel heraus.
Heide nickte dem Gerichtsmediziner zu. Clausing trat hinter einem wärmenden Scheinwerfer hervor und machte sich an die Arbeit. Nachts war er fast immer zum Dienst abrufbar. Seine Frau trank mit ihren Freundinnen den Weinkeller leer, seine Tochter studierte Tiermedizin in Gießen, gegen seinen Rat. Er war ein Fatalist, der seine Bestimmung darin sah, den Tod auf ein erklärbares Maß zurechtzustutzen.
»Spaziergänger haben die Tasche vor einer guten Stunde gefunden«, erklärte Höttges. Er wies auf die Blaulichter, wo zwei unter Schock stehende Männer von dem Psychologen Jakub Skočdopole betreut wurden. »Der junge lebt in Nippes, der ältere stammt aus Speyer. Er ist zu Besuch bei Freunden. Köln hat er sich anders vorgestellt.«
»Wer geht denn um diese Zeit spazieren?«, fragte Heide. »Hier?«
»Leute, die es einsam mögen.«
»Kommen Ihnen die zwei verdächtig vor?«
»Nein, die sind fix und fertig«, fuhr der Kommissarsanwärter fort. »Als sie die Tasche gefunden haben, war sie noch zu. Sie haben den Reißverschluss aufgemacht und mit einem Feuerzeug reingeleuchtet, ohne sich viel dabei zu denken.«
»So entstehen Psychosen.«
»Wenigstens kamen die Ratten nicht ran.« Höttges schluckte den säuerlichen Geschmack in seinem Mund hinunter. »Aber dadurch hat das Baby keine Luft gekriegt.«
»Ich bezweifle, ob das eine Rolle spielte«, warf Clausing ein, »diese Taschen sind nie ganz luftdicht, und das Kind hat sich nicht freigestrampelt. Vermutlich war es schon tot, als es hineingelegt wurde.«
»So fest, wie es eingepackt war, konnte es sich doch gar nicht rühren«, meinte Heide.
»Säuglinge sind kräftiger, als man denkt. Bei einer schweren Verletzung, sagen wir einem Schütteltrauma, sieht die Sache allerdings anders aus.«
Sie sah sich prüfend um und versuchte, sich auf dem langgezogenen Uferstreifen zu orientieren.
»Ich kenne diese Gegend«, sagte Raupach. »Der Fundort liegt mitten im hohen Gras. Der nächste Trampelpfad verläuft da drüben, das sind sechs, sieben Meter, von dort aus kann man die Tasche kaum sehen, auch nicht bei Tageslicht. Wenn jemand das Kind lebend aussetzen wollte mit der Absicht, dass es gefunden wurde, hätte er einen anderen Ort gewählt.«
»Am besten eine Babyklappe«, ergänzte Höttges.
»Und wenn jemand es bloß loswerden wollte?«, fragte Heide. »Nachdem es gestorben war?«
»Dann
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