Das geheime Leben der CeeCee Wilkes
Genevieves Lage zu versetzen. Sie stellte sich vor, auf dem Parkplatz der Universität von zwei jungen Männern entführt und zu einer Hütte im Wald gebracht zu werden. Wehen zu bekommen. Und doch, der Mensch, der ihr am meisten leidtat, war das junge Mädchen, dem alles über den Kopf gewachsen war und das nicht wusste, was es tun sollte.
68. KAPITEL
L iebe Corinne
,
Dad und ich sind verletzt und verwirrt. Wir können verstehen, dass dir Eve Elliott nicht egal ist, aber wie kannst du für sie aussagen, wenn wir alles versuchen, damit meiner Mutter endlich Gerechtigkeit widerfährt? Deiner Mutter. Ich verstehe das einfach nicht. Ich bitte dich, von einer Aussage abzusehen, damit sie ihre gerechte Strafe bekommt.
Vivian
Corinne machte sich nicht die Mühe, auf diese E-Mail zu antworten. Sie und Vivian hätten sich als Kinder bestimmt ständig in den Haaren gelegen. Und sie selbst hätte irgendwann gegen Irving Russell rebelliert. Vielleicht wären ihr die Angstzustände erspart geblieben, aber momentan bezweifelte sie, dass sie mit diesen beiden Menschen heute noch sprechen würde.
Während sie sich am nächsten Morgen ankleidete, schaltete sie den Fernseher ein. In der
Today Show
interviewte Matt Lauer einen Experten, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
“Wissen Sie, es ist einfach nicht zu leugnen, dass Eve Elliott zur Zeit der Entführung erst sechzehn war”, sagte der Anwalt, “und dass sie als Erwachsene eine vorbildliche Bürgerin war. Doch die andere Seite baut eine riesige Anklage gegen sie auf. Natürlich fühlen wir alle mit der Familie Russell. Erst die ganze Sache mit Timothy Gleason, und als man dachte, es wäre endlich vorüber, taucht Eve Elliott auf.”
“Sie hätte aber nicht gestehen müssen”, sagte Matt Lauer. “Wird das zu ihren Gunsten ausgelegt werden?”
“Oh, bestimmt. Sie wird auf keinen Fall zum Tode verurteilt. Ihre Anwälte können geltend machen, dass sie Timothy Gleason hörig war. Aber ihr eigentlicher Fehler, wenn wir es so nennen wollen, war, dass sie das Kind entführt hat. In diesem Fall wusste sie, was sie tat, und sie hatte siebenundzwanzig Jahre Zeit, den Fehler wieder gutzumachen. Das wird die Anklage zu ihrem Vorteil nutzen.”
“Was denken Sie also? Lebenslänglich?”
“Darauf können Sie wetten”, entgegnete der Anwalt.
Nun war das Leben ihrer Mutter also schon Wetten wert. Corinne malte sich aus, wie Angestellte sich um Kaffeeautomaten versammelten und Wetten abschlossen.
Sie ging in die Küche, setzte Kaffee auf und ließ sich mit einer Schüssel Müsli am Tisch nieder. Sie hatte eine Idee und überlegte für einen kurzen Moment, Ken um seine Hilfe zu bitten, doch sie wusste, dass sie es allein tun musste.
Mit geschlossenen Augen rief sie sich das Gefühl in Erinnerung, das sie als Lehrerin vor ihrer Klasse verspürte. Sie konnte die abgestandene Luft des Zimmers riechen und sah die rosigen Gesichter vor sich. Ihre Atmung wurde ruhig und tief, ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte und wie.
Schnell stand sie auf und schaltete die Kaffeemaschine aus. “Ich bin selbstbewusst”, sagte sie laut und schnappte sich den Autoschlüssel vom Tisch. “Ich bin selbstbewusst.”
Charlottesville lag einhundertfünfzig Meilen von Raleigh entfernt. Es war schon eine Weile her, dass sie das erste und einzige Mal auf der Autobahn gefahren war. Autos schossen an ihr vorbei und raubten ihr fast den Atem, als sie versuchte, sich in den Verkehr einzufädeln. Dann, als sie es geschafft hatte, fuhr sie viel zu langsam. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Aber wie oft schon hatte sie dieses Gefühl gehabt? Und war sie auch nur ein einziges Mal wirklich erstickt? Nein. Natürlich nicht.
“Ich bin selbstbewusst.” Immer wieder wiederholte sie dieses Mantra laut. Es half ein wenig, und doch musste sie auf den ersten dreißig Meilen vier Mal auf einen Parkplatz fahren, um wieder Mut zu fassen. Erneut stellte sie sich in Gedanken vor ihre Klasse, und es fiel ihr immer leichter, diese Szene vor sich zu sehen, sich wirklich als ein Teil davon zu fühlen. Je öfter sie es tat, umso einfacher war es.
Während der letzten zwanzig Meilen musste sie nicht mehr anhalten, und bald schon befand sie sich auf den vertrauten Straßen von Charlottesville. Sie überlegte, kurz bei ihrem Vater vorbeizuschauen. Er wäre erstaunt zu hören, dass sie allein einhundertfünfzig Meilen gefahren war! Sie konnte es selbst kaum fassen. Aber sie hatte keine
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