Das geheime Leben des László Graf Dracula
ich nie tun«, sagte ich und drückte sie beruhigend an mich. Und damit schien die Sache für Estelle erledigt. Außer sie spielte ein sehr hinterlistiges Katz- und Mausspiel mit mir.
»Du hast dich also hier drin versteckt«, sagte ich beiläufig.
»Nicht wirklich.«
»Du hattest die Tür zugemacht.«
»Ich habe nachgedacht.«
»Du mußt die Tür zumachen, um nachdenken zu können?«
Sie lachte mit einer solch spontanen Heiterkeit, daß es schwer zu glauben war, sie sei nicht ganz einfach nur glücklich. »Nein, natürlich nicht!« sagte sie.
»Aber ab und zu braucht jeder ein bißchen Ruhe, um nachdenken zu können.«
»Ach ja?«
»Deshalb ging ich auch immer am Fluß spazieren.« Ich überlegte, ob sie Heimweh hatte, aber wenn dem tatsächlich so war, so schien sie es schnell abschütteln zu können. »Außerdem«, sagte sie, ihre frühere Leichtigkeit zurückgewinnend, »gibt es hier nichts zu essen!«
»Nichts zu essen?« Mein erster Impuls war, den in Frage kommenden Diener zu rufen und mit ihm ein Wörtchen zu reden. Aber wir hatten keine Diener.
»Du hattest Hunger!« rief ich aus. Aus irgendeinem Grund fand ich das ein großes Versäumnis meinerseits. »Du hättest mich früher wecken sollen.«
»Ich wollte dich nicht stören. Du hast so friedlich geschlafen, mit deinem Arm um das Kissen.«
Ihre Finger strichen über meinen Handrücken. Ich horchte auf irgendein Zögern, irgendeine Veränderung ihres Tonfalls, aber ich entdeckte keinerlei Anzeichen für eine Täuschung. Nein, sie sprach mit einer Zärtlichkeit, die ich absolut überzeugend fand. Unwillkürlich fühlte ich mich von ihrem Vertrauen gerührt. »Als ich dich im Schlaf angesehen habe«, sagte sie, »habe ich mir vorgestellt, du wärst ein schiffbrüchiger Seemann, der an den Strand einer verlassenen Insel gespült worden ist.«
Ich wäre nicht beunruhigt, wenn die Folgen, falls ich mich doch irren sollte, nicht so schwerwiegend wären. Es ist schwer zu glauben, daß Estelle auf eine so leichtherzige und liebevolle Art auf mich reagiert hätte, wenn sie meine Geschichte gelesen hätte. Und doch...
Ich habe die Szene im Arbeitszimmer, als ich die Tür öffnete, in Gedanken so exakt wie möglich zu rekonstruieren versucht. Estelle hatte sich schnell umgedreht, als ich ins Zimmer kam. (Warum hätte sie bei meinem Eintreten erschrecken sollen – sicherlich hatte sie mich gehört, als ich auf der Suche nach ihr durch die Wohnung ging – außer, sie war in das, was sie las, vertieft?) Ihre Hand lag auf meinem Tagebuch. Ihre linke Hand. Kann ich mir dessen sicher sein? Einen Augenblick später beugte ich mich über sie und erinnere mich genau daran, daß sie die Hand hob, um meine Arme festzuhalten. War sie erschrocken, weil ich das Zimmer betrat, oder war sie aufgeregt, weil sie mich sah? Das ist schwer zu entscheiden. Mir ist unbehaglich, weil ihre Hand auf dem Tagebuch lag.
Gut, ich nehme an, sie verstellt sich nicht. Sie weiß nichts. Außerdem, welche Frau würde das Tagebuch eines Mannes lesen? Estelle hat sich im Umgang mit mir bisher immer offen und ehrlich gezeigt. (Aber hat sie nicht ihre eigenen Eltern hinters Licht geführt?) Sie liebt mich. Ich bin jetzt ihre einzige Stütze auf der Welt. Ich weiß, daß sie das sehr deutlich spürt. Ich bin sicher, daß mir nichts passieren kann, solange ich mir Estelles Ergebenheit sicher sein kann. (Ich wünschte allerdings, sie hätte sich in der Lage gesehen, mir Informationen über die Identität des jungen Mannes zu geben, der sie im Zug begleitet hat. Hatte sie etwas zu verbergen, oder liegt es einfach daran, daß die Sache nicht der Rede wert ist?)
28. JUNI 1887
Selbst wenn wir etwas zu essen hätten, so haben wir doch keine Diener, die es zubereiten könnten, und wir können nicht von Estelles Schöpfungen leben. Ich erwähnte es ihr gegenüber als einen Scherz, aber der verfehlte seine Wirkung.
Sie scheint ihre Arbeit in dem Bäckerladen als etwas zu betrachten, das sie hinter sich gelassen hat, als etwas, das jetzt unter ihrer Würde ist. Tatsache ist, daß weder Estelle noch ich eine Ahnung haben, wie man in dieser Stadt die Dienste eines Hausmädchens anheuern kann. Ich hatte angenommen, daß sie auf diesem Gebiet, auf dem ich nicht besonders geschickt bin, bewanderter wäre.
Wlassics hat die ganze Zeit mit solchen Situationen zu tun, mit Leuten, die neu sind in der Stadt und Hilfe brauchen. Estelle war von diesem Vorschlag zur Lösung unserer mißlichen Lage sehr
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