Das geheime Leben des László Graf Dracula
einsam, da sie in dieser Stadt genauso eine Fremde ist wie ich. Daher nimmt sie häufig die Gelegenheit wahr, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Sie verbessert mein Französisch, und ich bringe ihr Ungarisch bei, was für eine Französin sehr schwer zu lernen ist. Ich habe das Gefühl, sie möchte, daß wir Freundinnen werden. Monsieur ist sehr vornehm und redet nur selten, aber er ist auch äußerst rücksichtsvoll. Die meiste Zeit ist er in Regierungsgeschäften unterwegs. Sie haben eine Wohnung im Leopoldstadt-Viertel von Pest, nicht weit von dem neuen Opernhaus. Madame hat mir versprochen, mich bald einmal dorthin zu einer Aufführung mitzunehmen, da sie großen Wert darauf legt, daß ihre Kinder von früh an mit Kultur in Berührung kommen.
Die Mädchen sind absolut entzückend; sie haben gute Manieren und sind überhaupt nicht verzogen, wie es bei französischen Kindern so oft vorkommen soll. Anna ist sechs Jahre alt, obwohl man das kaum glauben möchte, wenn man die Fragen hört, die sie stellt, und all die aufgeweckten Dinge, die sie vorbringt!
Sara, die Vierjährige, stellt immer irgendwelchen Unsinn an, so daß die beiden mich ganz schön in Atem halten, wie ihr Euch wohl vorstellen könnt! Gestern haben wir uns eine Ausstellung mit Bildern von Mihály Munkácsy angesehen, von dem viele Leute sagen, daß er der größte Künstler dieses Jahrhunderts sei.
Madame versteht viel von Kunst, und ich kann eine Menge von ihr lernen, so daß ich mir Mühe gab, ihr zuzuhören, während ich Anna und Sara durch die Säle scheuchte (natürlich haben sie sich schrecklich gelangweilt). Ich muß schon sagen, so wie sie es erklärte, ist er tatsächlich ein sehr großer Maler, mit einem wunderbaren Sinn für Kontraste. Ein Bild mit dem Titel ,Der sterbende Mozart' erfüllt einen mit nachhaltiger Melancholie. Wie passend, daß der größte Musiker seiner Zeit von dem größten Maler seiner Zeit dargestellt wird. Wir haben auch schon den Zoo besucht, und vergangene Woche sind wir mit der Kutsche über die Brücke nach Buda gefahren, zu einem der hübschesten Gartenrestaurants dort, das ,Die Marmorbraut' heißt. Was für ein merkwürdiger Name! Aber so schön, mit der Zigeunerkapelle, die dort gespielt hat. Die Mädchen schliefen auf dem Heimweg im Wagen ein, und Georg, der Kutscher, mußte sie die Treppe hinauf ins Bett tragen, weil Madame sagte, daß sie viel zu hübsch aussähen, um geweckt zu werden.
Ich muß jetzt schließen. Manchmal habe ich ein bißchen Heimweh. Das ist ja auch normal, nicht wahr? Aber ich fühle mich hier fast wie zu Hause, und ich werde wie ein Familienmitglied behandelt. Wenn ich erst mal ein paar Monate hier bin, gibt Madame mir vielleicht ein paar Tage frei, damit ich Euch besuchen kommen kann.‹ Na bitte!« sagte Gregor und blickte mit zufriedener Miene zu uns auf. »Es hätte nicht besser kommen können.«
Sie sahen mich beide an, als erwarteten sie eine zustimmende Äußerung.
»Nun, natürlich freue ich mich, daß es so gut funktioniert hat«, sagte ich, obwohl ich den Brief in Wirklichkeit als zutiefst verstörend empfand.
Es war nicht die verblüffende Glaubwürdigkeit ihres Lügengespinstes, die mir Sorgen bereitete, sondern das fremde Gedankengut, das ich in ihren Worten entdeckte. Als ich sie vor einer Woche verließ, hätte ich schwören können, daß Estelle noch nie etwas von Munkácsy gehört hatte. »Wunderbarer Sinn für Kontraste... erfüllt einen mit nachhaltiger Melancholie.« Wessen Sätze waren das? Und wie hatte sie ein Restaurant auf der anderen Seite der Donau finden können, dieses Mädchen, das noch vor wenigen Tagen niemals auch nur einen Fuß auf eine Fähre gesetzt hatte? Ich zermarterte mir bereits den Kopf nach einer Ausrede, um wieder nach Budapest zurückzueilen.
»Ich bin sicher, daß du weit mehr zu diesem Erfolg beigetragen hast, als du zugeben willst«, sagte Elisabeth ohne eine Spur von Ironie.
»Ja, ja, er ist ein ganz Verschwiegener, unser László«, nickte Gregor.
»Ich habe eine wunderbare Idee!« rief Elisabeth. »Wir reden doch immer davon, wie langweilig es hier ist.«
»Ich beklage mich nicht«, warf ich ein, in dem Versuch, abzubiegen, was sich da anbahnte. »Ich hab's gern so, wie es ist.«
»Irgend etwas gibt es immer zu verbessern«, bemerkte Gregor.
»Wollen wir die du Barrys nicht einfach mal zu uns einladen?« schlug Elisabeth vor und schaute erwartungsvoll von einem zum anderen. Ohne auf mein mürrisches Gesicht zu achten, fuhr
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