Das geheime Leben des László Graf Dracula
mehrere Minuten lang reglos stehen und wartete hinter einem Busch, der mich von dem flachen Gelände zu beiden Seiten des Baches abschirmte. Hier unten wehte kaum ein Lufthauch, aber genug, um meinen Geruch allmählich die Senke entlangzutragen und etwa vorhandenes Wild zu Gregor und Jakob zu treiben. Die Luft war von dem feuchten Erdgeruch des Mooses erfüllt, das in der Gischt des Wasserfalls gedieh. Das Wasser plätscherte unregelmäßig, und ich lauschte in kurzen Augenblicken der Stille angespannt auf irgendein noch so verhaltenes Rascheln, das die Nähe von Tieren angezeigt hätte.
Ich hatte mich gerade bis zum Rand des schützenden Gebüschs vorgepirscht, als dahinter plötzlich ein Reh auftauchte. Es war eine ausgewachsene Ricke, und sie hörte auf zu grasen und drehte den Kopf ruckartig in Richtung des Schluchtausgangs. Vielleicht hatte sie ein schwaches Geräusch von Gregor und Jakob gehört, die eine Meile entfernt ihre Stellung bezogen. Die Ricke spitzte die Ohren und zuckte nervös mit dem Schwanz. Aber es folgte wohl kein weiteres Geräusch mehr, und bald senkte sie den Kopf wieder zu Boden, um friedlich weiterzugrasen.
Ich wunderte mich, daß sie mich nicht witterte. Einmal glaubte ich, eine Spur ihres strengen Geruchs eingefangen zu haben, aber ich muß es mir eingebildet haben. Mit fast unerträglicher Spannung lauschte ich auf das Knacken der Halme, wenn sie an dem Gras zog, und beobachtete durch die Blätter meines Verstecks, wie sie noch einmal prüfend in die Richtung sah, von der aus die verdächtigen Geräusche vorher gekommen waren. Vielleicht lenkte sie das von ihrer eigentlichen Gefahr ab – denn ich hatte vor, sie zu erlegen, Jagdzeit hin oder her, wo sich nun gerade eine so herrliche Gelegenheit bot.
Aber irgend etwas hatte sie unruhig gemacht. Immer öfter hob sie den Kopf und peilte nach allen Seiten. Unendlich langsam glitt meine Hand hinunter zu dem Jagdmesser an meiner Hüfte und zog es aus der Scheide. Die sechs Meter, die zwischen uns lagen, hätten genausogut der Pazifische Ozean sein können.
Aber durch irgendeine unheimliche Kraft angezogen, kam sie mehrere Schritte auf das Gebüsch zu, in dem ich mich versteckt hielt, wie in der Absicht, es abzuweiden. Und dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Ihre Nüstern blähten sich, und sie hob den vorderen Lauf vom Boden, ließ ihn wieder unsicher sinken und hob ihn erneut. Sie schien direkt in mein Gesicht zu starren, ein trauriger, vorwurfsvoller Blick.
Dann machte sie einen plötzlichen Satz. Der Wind hatte sich nicht gedreht, nichts war geschehen, was sie auf mich hätte aufmerksam machen können. Ich stand aufrecht da und wurde mir nun meines heftigen Herzklopfens bewußt, zugleich mit dem Gefühl, daß mir das Hemd unbehaglich am Körper klebte. Ich atmete schwer. Meine Hand zitterte, als ich das Messer in die Scheide zurückschob. Zu meiner Linken hörte ich erneutes Geraschel im Unterholz, als ein weiteres Reh, vielleicht der Bock, in panischer Flucht davonpreschte. Dann herrschte Stille in dem flirrenden Sonnenlicht, bis auf das geschäftige Summen einer Biene. Ich spürte, wie eine unerklärliche Angst allmählich von mir wich, als sei es mein eigenes Leben, das in Gefahr gewesen war.
30. AUGUST 1887
Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, daß Gregor die Absicht äußern könnte, mich zum Treffen der Ungarischen Liga zu begleiten, doch bisher hat er noch kein Interesse daran gezeigt, und Oberst Rado hat ihn auch nicht mehr erwähnt.
Mein Zug nach Budapest hatte wieder Verspätung, und zu meinem Verdruß blieb mir nichts anderes übrig, als ein ödes Treffen der Ungarischen Liga zu ertragen, bevor ich mich bei Estelle in unserer Wohnung in der Maria-Theresia-Straße einfinden konnte.
Es war spät am Abend, und ich war darauf gefaßt, Estelle in fiebriger Ungeduld anzutreffen. Ich hatte sie noch nie warten lassen, und ich fürchtete, daß sie mich schmollend oder aufgebracht empfangen würde oder mit eisigem Schweigen. Als Vorsichtsmaßnahme hatte ich das Taxi einen Umweg über den Opernplatz nehmen lassen, wo ich einen riesigen Strauß dunkelroter Rosen von einer alten Bauersfrau kaufte.
Ich schloß die Wohnung selbst auf, um das Dienstmädchen nicht unnötig zu stören, und rief leise nach Estelle. Es kam keine Antwort. Die Lichter im Salon waren an, aber der Raum war leer. Ich dachte mir, sie sei vielleicht eingenickt, während sie auf mich gewartet hatte, und mit der Absicht, sie zu überraschen, öffnete ich
Weitere Kostenlose Bücher