Das geheime Leben des László Graf Dracula
Ziel lossteuert. Doch er tut sich schwer, wenn er seiner Umgebung nicht sein eigenes hektisches Tempo aufzwingen kann, und im Haus eines Toten geht eben alles mit feierlicher Gemessenheit vor sich.
Ich schüttelte Theissens Hand. Er war ungemein dankbar, daß ich gekommen war, und schien sich der Tatsache nicht bewußt, daß ich als Arzt dort war, nicht als Graf. Frau Theissen scheint hin- und hergerissen zwischen berechnender Genugtuung über das gesellschaftliche Prestige, das ihr durch das Drama erwächst, und tiefem, echtem Kummer, mit dem sie nichts anzufangen weiß.
Nach einigen flüchtigen Beileidsbekundungen verzog Kraus sich fast überstürzt in Richtung Treppe.
»Sie waren so großzügig zu unserer lieben Estelle, Herr Graf«, sagte Frau Theissen mit Tränen in den Augen.
»Ach, eigentlich habe ich doch nur wenig getan«, winkte ich resigniert ab.
Ich war ehrlich betrübt über ihren Verlust. Zweifellos hätte ich mich schämen sollen, als ich der trauernden Mutter der Frau, die ich gerade umgebracht hatte, höflich mein Beileid aussprach. Während ich Frau Theissens feuchte Hand drückte, hätte ich mir wie ein verdammter Heuchler vorkommen müssen – aber das tat ich nicht. Kraus wartete ungeduldig, einen Fuß auf der untersten Treppenstufe, die Hand am Geländer. Ich ärgerte mich über seine ungehobelten Manieren, ja, im stillen verfluchte ich ihn gar für seine Unfreundlichkeit gegenüber den Theissens!
Theissen brachte vor Erschütterung kein Wort heraus, doch seine Frau sagte tapfer: »Sie ist oben in ihrem Zimmer, Herr Graf«, und preßte schnell ihr Taschentuch an die Lippen.
»Keine Sorge, wir finden uns schon zurecht«, sagte Kraus, bereits im Hinaufsteigen.
»Es wird nicht lange dauern«, versicherte ich ihnen, mühelos in die Rolle des Arztes schlüpfend.
Eine Bauersfrau saß auf einem Stuhl in dem Zimmer. Man hatte sie wohl mit der Totenwache betraut, und sie zeigte keine Neigung, sich zurückzuziehen, als wir uns ans Werk machten. Sie saß mit bequem gekreuzten Beinen da und beobachtete uns mit offenem Interesse, während sie unentwegt weiterstrickte.
Das ständige Klicken ihrer Nadeln verlieh der Szene etwas beunruhigend Alltägliches und half mir, bei Verstand zu bleiben.
Manche Leute behaupten, Leichen sähen aus wie Schlafende. Das ist Unsinn.
Der Leichnam lag auf dem Rücken, bis zum Kinn mit einem Laken bedeckt, das Gesicht völlig ausdruckslos. Selbst im Schlaf hatte Estelle immer etwas Belebtes gehabt; oft habe ich sie bei Kerzenlicht beobachtet und das allmähliche Wechselspiel der Gefühlsregungen auf ihren Zügen verfolgt, während sie träumte. Und immer war da auch die Erwartung, daß sie jeden Augenblick die Augen aufschlagen könnte und jener erst noch schlaftrunkene, dann zunehmend mutwillige Blick darin aufleuchten würde. Erinnerungen an Estelle stiegen in mir hoch, und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten; ein heraufdrängender Schluchzer krampfte mir die Kehle zusammen und drohte mich zu verraten. Ich unterdrückte ihn mühsam mit einem seltsam bellenden Husten.
Was muß das für ein Mensch sein, der dieses kostbare Leben auslöschen konnte? fragte ich mich in meiner Verzweiflung. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem ich zum erstenmal einen Anflug von Furcht verspürte, wie eine Flamme, die sich an ihrer eigenen Hitze entzündet; ein plötzlich aufflackernder Schrecken bei dem Gedanken, daß in mir ein Fremder verborgen war, der Anspruch auf meine Seele erhob.
Ich versuchte meinen Kummer zu beherrschen, indem ich mich mit aller Macht auf die vorliegende Aufgabe konzentrierte. Instinktiv – mit der instinktiven Zärtlichkeit des Liebenden – strich ich ihr eine Locke ihres seidenen Haars aus der Stirn.
»Wonach tasten Sie da?« fragte Kraus, der mir wißbegierig über die Schulter spähte.
»Mögliche Frakturen des Schädels«, knurrte ich, um ihn davon abzuhalten, noch weitere Fragen zu stellen, bevor ich mich wieder gefangen hatte.
Zu meiner Entrüstung hatte er eine ihrer Hände ergriffen. Er hatte seine Lupe hervorgeholt und blinzelte angestrengt unter ihre Fingernägel.
»Hmm«, sagte er. »Keinerlei Anzeichen für einen Kampf.«
Es mag als Gipfel der Heuchelei erscheinen, daß ich, der Mörder des Mädchens, bereit sein sollte, jemanden nur wegen seines pietätlosen Umgangs mit ihrer Leiche an die Gurgel zu fahren, und doch war dieser Impuls vollkommen ehrlich, die Entrüstung echt und unverstellt. Der Mörder in mir war
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