Das geheime Leben des László Graf Dracula
sein Eigenleben, zusammen mit den weltlichen Gütern, aufgeben, sobald man durch das Haupttor hineingeht. Ihr Verlust gehört zur Armut. Und so zögerte ich keine Sekunde, hinter die Trennwände zu gehen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß ich einen angemessenen Grund oder gar eine Erlaubnis benötigen würde, um dort einzudringen.
Stacia, so bleich wie die grauen Laken, auf denen sie lag, drehte den Kopf weg. Ich ging einen Schritt auf sie zu und sah die Bandagen, die um ihre Handgelenke gewickelt waren.
»Gehen Sie weg!« zischte sie. Sie sah mich nicht an. Im Zorn? Vor Scham?
Nur ihr wilder Trotz war deutlich zu erkennen.
Madame Verdun, die so leise näher gekommen war, daß ich sie erst bemerkte, als sie sich an mir vorbei in den abgeschirmten Bereich schob, drehte sich am Fußende des Bettes zu mir um.
»Doktor?« fragte sie mit eisiger Stimme.
»Ich dachte... eine meiner Patientinnen«, murmelte ich.
»Offensichtlich nicht.«
Ich harrte noch einen Augenblick unter ihrem kühlen starrenden Blick aus.
Ich wollte nicht gehen, ohne etwas zu Stacia gesagt zu haben, aber in Anwesenheit von Madame Verdun war das nicht möglich. Ich zitterte bei dem Gedanken, daß die Wahrheit herauskam. »Verzeihung«, murmelte ich und zog mich zurück.
Als ich wieder hinter der Abschirmung hervorgekommen war, gewann ich meine Fassung zurück und machte mich auf die Suche nach jemandem, der mir erzählen konnte, was passiert war. Stacia war im Salpêtrière eine Berühmtheit, zum Teil wegen ihrer äußeren Erscheinung, zum Teil wegen ihrer virtuosen Begabung als Hypnoseobjekt. Bei Charcots Freitagsdemonstrationen war sie ein Star; innerhalb der kleinen Welt des Hôpitals zollte man ihr genauso Bewunderung und Beifall, wie draußen in der Welt einer berühmten Schauspielerin. Jeder, der an diesem Morgen mehr als eine Stunde im Salpêtrière verbracht hatte, würde die Geschichte kennen. Anstatt einen meiner Kollegen zu fragen, ging ich zu einer Schwester, die in der Teeküche Laken faltete.
»Was ist denn mit Stacia los?« fragte ich mit verschwörerischer Flüsterstimme.
Sie fühlte sich geschmeichelt, mit einem Doktor Klatschgeschichten auszutauschen, und machte nur eine kurze Pause, um nach rechts und links zu sehen und sich zu vergewissern, daß Madame Verdun sie nicht dabei ertappen würde, wie sie mit einem Arzt herumstand. »Dr. Ducasse hatte sie selber zusammengenäht«, sagte sie bedeutungsvoll. Eindeutiges Zeichen dafür, welch hohen Status Stacia innerhalb der Institution einnahm. »Sie hat sich die ganze Arme zerschnitten. Mit einem Skalpell«, fügte sie in melodramatischem Ton hinzu.
Ich machte unwillkürlich die Augen zu und zitterte.
»Vierundfünfzig Stiche!«
Ich gab mir Mühe, nicht an die klaffenden Wunden zu denken.
»Sie hätte verbluten können«, fuhr das Mädchen eifrig fort, entzückt über die Wirkung, die ihr Bericht bei mir erzielte.
Ich versuchte sie von den Details abzulenken, die an meinen Nerven zerrten.
»Und hat sie es hier im Hôpital getan?« fragte ich einfältig.
Sie sah mich verständnislos an. »Ja, natürlich«, antwortete sie. »Wo denn sonst? Wo hätte sie es sonst tun sollen?«
»Das ist aber schlimm. Wirklich schlimm«, polterte ich los. »Hat man denn eine Idee, warum sie so etwas Schreckliches getan haben könnte?«
Das Mädchen war zurückhaltend. »Was sind denn schon die Gründe dafür, daß sich eine junge Frau das Leben nehmen will?«
Ich ließ meine Blicke umherschweifen und schwieg. Vielleicht Schwangerschaft?
»Was könnte es schon anderes sein als eine Romanze?« flüsterte sie und legte kokett den Kopf auf die Seite.
Ich zuckte erschrocken zurück. Jetzt war ich derjenige, der zurückhaltend sein mußte. »Aber hier?« bohrte ich weiter. »Wie kann es hier im Hospital zu so etwas kommen?«
Ihre Antwort war ein weiterer wissender Blick.
ABEND
Den ganzen langen Tag habe ich darauf gewartet, daß mir jemand auf die Schulter klopft, mir leise ins Ohr flüstert, daß der Zettel gefunden worden war.
Jeden Augenblick erwartete ich, in Schande nach Budapest zurückgeschickt zu werden. Aber ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die Nachricht überhaupt etwas mit mir zu tun hat. Vielleicht ist es nur mein schlechtes Gewissen, das sich regt, und ich habe in Wahrheit gar nichts zu befürchten.
An diesem Abend brachte die Dienerin eine Schüssel mit einem Gericht auf mein Zimmer, das sie Ragout nennen, aber ich habe keinen Appetit. Madame
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