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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roderick Anscombe
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so gar nicht dem Stereotyp eines ungarischen Adligen entspricht. Er ist ein kleiner Mann von schätzungsweise fünfundfünfzig Jahren, aber so lebhaft und flink in seinen Bewegungen, daß man ihn für jünger hält.
    Sein Haar ist noch schwarz, aus der Stirn nach hinten gekämmt, mit grauen Strähnen an den Schläfen. Sein Gesichtsausdruck wechselt ständig, so daß man sich nicht darauf verlassen kann, zu wissen, wie es in seinem Innern aussieht.
    Der Oberst trägt den obligatorischen Kavallerieschnurrbart, ist aber sonst frei von dem prahlerischen und affektierten Benehmen, das heutzutage anscheinend zu einem Armeeoffizier gehört wie seine Uniform. Er ist ein aufmerksamer Zuhörer, und seine Augen sind ständig in Bewegung, springen von einem Punkt zum anderen, als könnte man gar nicht schnell genug reden, um seinen Geist voll in Anspruch zu nehmen.
    Oberst Rado hat mich heute besucht. In der Bibliothek sprachen wir bei einer Flasche Tokaier von der Jagd und kamen schließlich auf Onkel Kálmán zu sprechen.
    »Ihr Onkel war ein großer Mann«, sagte der Oberst, während er die bernsteinfarbene Flüssigkeit gegen das Licht hielt.
    »Er war einzigartig, der Letzte seiner Art. Wir werden ihn alle sehr vermissen«, erwiderte ich. Inzwischen hat sich jede auch noch so geringe Menge an Zuneigung, aus der ich früher den Ausdruck des Bedauerns abgeleitet hatte, durch die vielen Wiederholungen abgenutzt.

    »Er war auf eine Art und Weise großartig, die Sie vielleicht gar nicht an ihm kennen. Ein großer Teil seiner Arbeit kann gar nicht öffentlich anerkannt werden.«
    »Aber seine Taten werden allen in Erinnerung bleiben, denen er in aller Stille geholfen hat.«
    »Ja, in der Tat. Allerdings dachte ich eher an seine politische Arbeit.«
    »Er hat immer an ein unabhängiges Ungarn geglaubt«, begann ich, »aber soviel ich weiß, ist er nicht darüber hinausgegangen.« Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht der erste sein, der bei diesem Katz- und Mausspiel die Liga erwähnte.
    »Tatsache ist, daß er sehr aktiv war«, sagte der Oberst.
    »Davon habe ich gar nichts gewußt.«
    »Nein? Hat er nie die Ungarische Liga erwähnt?«
    »Nur ganz beiläufig«, sagte ich. Allmählich wurde mir klar, daß sein Besuch dem Versuch galt, mich zur Mitarbeit zu ermuntern, und ich war ziemlich verärgert.
    Er lachte aus vollem Hals. »Aber ich weiß mit Sicherheit, daß er viele Male versucht hat, Sie zum Beitritt zu bewegen!«
    Ich überlegte, ob ich ihm kühl und sachlich sagen sollte, daß das ein Irrtum war, aber seine gute Laune war ansteckend; außerdem zeigte mir das Glitzern in seinen Augen, daß er nicht mit sich spaßen lassen würde. Ich weiß nicht, was genau mich umgestimmt hat.
    »Wir treffen uns einmal im Monat in Budapest. Wenn Sie das nächstemal dort sind, möchte ich gern, daß Sie mich besuchen. Dann werde ich Sie ein paar Leuten vorstellen.«
    Das war alles. Es war weniger eine Einladung als eine Erwartung. Danach wurde die Liga nicht mehr erwähnt, und das Gespräch ging zu anderen Themen über. Er ist ein eifriger Leser und nahm sich viel Zeit, um sich die Bücher in der Bibliothek anzusehen. Vielleicht war es nur Einbildung, aber es kam mir so vor, als würde sein durchdringender Blick bei den theologischen Titeln kurz anhalten, auf diesem Buch hoch oben auf dem Regal verweilen. Bis jetzt war es noch nie jemandem aufgefallen. Später, als ich selbst noch einmal nachsah, stellte ich fest, daß man trotz all meiner Versuche, es zu verstecken, von einer ganz bestimmten Stelle am Boden aus im Schein der Nachmittagssonne erkennen kann, daß sich der Einband von den anderen Büchern, zwischen denen es steht, unterscheidet. Mir hat mein Geständnis dort oben deutlich sichtbar in seinem Versteck immer gut gefallen, aber jetzt ahne ich, daß ich etwas zu verlieren habe, und muß einen neuen Platz finden.

    13. MAI 1887

    Ich befinde mich in einem Dilemma: Da wir noch um Onkel Kálmán trauern, können wir für Elisabeth keine Geburtstagsfeier ausrichten. Aber sie erlaubt uns auch so schon selten genug, sie gebührend zu würdigen. Das ist genau eine der Situationen, die Onkel Kálmán, die unbestrittene Autorität für Recht und Ordnung, noch vor wenigen Tagen für das Haus entschieden hätte. Ich befürchte, daß es, wenn die Dienerschaft einbezogen wird, einen ziemlichen Rummel gibt, was ich ja gerade vermeiden möchte, da sich die Kálmánschen Reaktionäre auf dem Anwesen die Mäuler zerreißen würden, nachdem sie

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