Das geheime Leben des László Graf Dracula
meinte, daß er nie wieder etwas vor mir verheimlichen sollte.
20. JUNI 1887, MORGENS
Seit ich wieder hier bin, kann ich die Ruhe des Schlosses nicht mehr ertragen.
Außerhalb unseres Tals ist die Welt in Bewegung; hier steht alles still. Ich kann es kaum erwarten, nach Budapest zurückzukehren, denn dort werden wir Zusammensein.
Zu meinem großen Ärger hielt der Zug mitten im Nirgendwo; später erzählte mir der Zugführer, ein Signal habe versagt. Daher kam ich zu spät auf dem Bahnhof an, um mich noch mit Estelle am Fluß zu treffen. Ich war sehr enttäuscht, weil ich mich schon so sehr darauf gefreut hatte, sie zu sehen. Das ist der alleinige Grund für meine Entgleisung letzte Nacht, als ich Elisabeth besuchte und mit ihr einen Koitus hatte. Für mich hat dieser Akt keine größere Bedeutung als das Herauslassen des angestauten Dampfes aus einer Lokomotive, aber auf Elisabeth übte er eine fatale Wirkung aus.
»Wenn du willst, kannst du mich ruhig öfter besuchen kommen«, flüsterte sie schüchtern, als wir verausgabt dalagen.
Ich hatte an dem Punkt, von dem es keine Rückkehr gab, den halbherzigen und naturgemäß vergeblichen Versuch unternommen, meine Lust zu zügeln.
Elisabeth ist aus dem Alter, in dem sie Kinder bekommen kann, heraus, und so kann dieser Akt in ihrer Religion keine andere Bedeutung haben als die der puren und reinen Lust. Ich spürte, daß sie verwirrt ist. Sie scheint zu zögern, aber ich ahne, daß in ihr eine Hoffnung aufkeimt, die Hoffnung auf Liebe. Ich wünschte, sie würde sich dieser Hoffnung nicht hingeben, aber ich bin nicht gerade geeignet, ihr Ratschläge zu erteilen.
NACHMITTAG
Anstatt am Fluß spazierenzugehen und Estelle von der herrlichen Wohnung zu erzählen, die ich für uns gefunden hatte, mußte ich mich damit begnügen, heute morgen den Bäckerladen aufzusuchen. Anscheinend hatte mich Frau Theissen kommen sehen oder mich aus irgendeinem Grund schon erwartet, was mir peinlich war. Wenn ich zu einem so voraussagbaren Besucher werde, könnten vielleicht auch andere auf mein besonderes Interesse an der Familie Theissen aufmerksam werden. So entstehen Gerüchte.
»Oh, Herr Graf! Wir sind so begeistert! Wie können wir Ihnen jemals genug danken?«
Ich lächelte gütig, darauf vertrauend, daß sie mein Unbehagen ob Estelles neuesten Erfindungen für Bescheidenheit hielten.
»Wir haben einen Brief bekommen«, rief Frau Theissen mit neckischer Singsangstimme, während sie mir auf eine Weise mit dem Finger drohte, die zu anderen Gegebenheiten als übertrieben familiär angesehen werden müßte. Aber jetzt wurde ich von der strahlenden Erscheinung Estelles abgelenkt, die hinter dem Vorhang hervorgekommen war. Erst in diesem Augenblick fiel mir ein, daß es vielleicht ratsam gewesen wäre, den Brief, den sie für die Familie der du Barrys geschrieben hatte, zuerst zu lesen, bevor ich ihn in Budapest der Post anvertraute. Doch dafür war es jetzt zu spät.
»Von Madame du Barry?« fragte ich.
»Sie haben es erraten!« sagte Frau Theissen. Was immer Estelle geschrieben hatte, es hatte ihre Mutter in helles Entzücken versetzt.
»Ich muß gestehen, daß ich erst gestern mit Madame gesprochen habe, und sie sagte mir, daß sie Ihnen geschrieben hat. Ich nehme sogar an, daß der Brief im selben Zug von Budapest hierhergekommen ist wie ich.«
»Madame möchte, daß ich sofort anfange, sobald sie ihr neues Heim in Ordnung gebracht haben«, sagte Estelle.
»Wirklich?« fragte ich und lächelte. »Nun, ich hatte den Eindruck, sie hofft auf Ihre Anreise in etwa einer Woche.«
»Sind Sie sicher?« Estelle hüpfte vor Aufregung auf und ab. »Sind Sie wirklich ganz sicher?«
In diesem bedeutsamen Augenblick trafen sich unsere Blicke, als würden wir uns auf telepathischem Weg verständigen, ohne daß die anderen Menschen im Zimmer merkten, was zwischen uns vor sich ging.
»Ja«, sagte ich. »Sie sind bereit und freuen sich schon sehr auf Ihr Kommen.
Ich habe ihnen viel von Ihnen erzählt.«
»Ich hoffe, Madame wird die Vereinbarungen bestätigen«, sagte Frau Theissen ängstlich. »Es geht alles so schnell, daß mir ganz schwindlig wird.«
Estelle entschuldigte sich hastig und verschwand hinter dem Vorhang, und ich ließ mich von Frau Theissen dazu überreden, ein Stück Mandelkuchen zu probieren. Er war köstlich, und als Estelle zurückkam, bestand sie darauf, daß ich ein paar Stücke davon zum Tee mit aufs Schloß nahm. Sie selbst wickelte ihn ein.
26. JUNI
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