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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roderick Anscombe
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beuge mich über sie, hin und her gerissen zwischen liebevoller väterlicher Sorge um dieses zerbrechliche junge Mädchen und dem animalischen Impuls, sie mir einzuverleiben. Sie bewegt sich. Ich trete zurück in den Schatten. Sie weiß nicht, daß es das Mondlicht ist, das sie stört.

    An diesem Morgen hatte ich vorgehabt, Estelle am Bahnhof zu treffen. Ich verbrachte die Nacht allein in der Wohnung, wachte um vier auf und ging ziellos, wie ein gefangenes Tier, durch die Zimmer, während ich darauf wartete, daß die Sonne aufging. Immer wieder ging ich zur Uhr zurück, um nachzusehen, ob die Zeiger schon dichter zu dem Zeitpunkt gekrochen waren, an dem ich mich vernünftigerweise auf den Weg machen sollte.
    Am Bahnhof versicherte man mir, daß der Zug pünktlich ankommen würde.
    Ich war eine Stunde zu früh dort und trank viel zuviel Kaffee, während ich mich bemühte, die Zeitung zu lesen. Schließlich fuhr die Lokomotive unendlich langsam, in große Dampfwolken gehüllt, in die Bahnhofshalle ein. Ich wartete mit quälender Ungeduld, daß der Zug zum Stehen kam und die Wagentüren entlang der Abteile des Zuges aufflogen.
    Nicht weit von dem Platz, an dem ich neben einem Berg aus Koffern stand, stieg Estelle aus einem Wagen. Sie trug blaßblaue Kleidung, die ich noch nicht an ihr gesehen hatte. Schnell blickte sie sich um, sah mich aber nicht, und ich, der ich mich über ihren Anblick in der Menschenmenge freute, gab ihr auch kein Zeichen. Dann drehte sie sich zum Wagen um, aus dem sie gestiegen war, und zu meiner Überraschung kletterte hinter ihr ein junger Mann heraus und blieb neben ihr stehen. Er redete mit ihr, als würden sie sich kennen, als würden sie sich sogar ziemlich gut kennen. Als er etwas sagte, nickte sie und lächelte, sah sich noch einmal um und entdeckte mich. Ich verspürte den Drang, nach vorne zu gehen und sie diesem jungen Schnösel zu entreißen, aber ich war durch ihre Entscheidung, mich nicht zur Kenntnis zu nehmen, gewarnt. In dem Zug könnten ja Passagiere aus unserer Stadt sein, die mich vielleicht kannten.
    Schnell drehte ich den Kopf zur Seite und tat, als studierte ich den Fahrplan in einem Glaskasten. Mit wachsendem Zorn beobachtete ich ihre Spiegelbilder, als er einen Träger für ihr Gepäck herbeirief, und verfolgte ihre geisterhaften Schemen, als sie hinter mir vorbeigingen. Sie legten keine ungehörige Vertrautheit an den Tag. Wenn er sie angefaßt hätte, hätte ich ihn wohl auf der Stelle umgebracht. Ich folgte ihnen in kurzem Abstand über den Bahnsteig, schwenkte lässig meinen Spazierstock und bemühte mich, mir aus den Gesprächsfetzen, die ich auffing, einen Reim auf die Geschichte zu machen.
    Ich muß zugeben, daß er ein gutaussehender junger Bursche war, wenn auch mit etwas einfältigem, übereifrigem Benehmen. Ich hielt ihn für einen Buchhalter oder bestenfalls einen Jurastudenten. Ich war erfreut zu sehen, daß Estelle ihn nicht ermutigte, aber er schien tausend Gründe zu haben, sich in ihre Richtung zu lehnen oder mit der Hand dicht an ihrem Körper zu gestikulieren.
    Sie gaben ihre Fahrkarten ab, gingen durch die Sperre und blieben zu einer verlegenen Verabschiedung stehen, die ich nicht belauschen konnte. Ich war gezwungen, dort abzuwarten, wo ich war und wo es nichts weiter zu beobachten gab als die lächerliche Beharrlichkeit eines Täuberichs, der die Aufmerksamkeit eines krumenpickenden Weibchens zu erringen versuchte. Als ich von dieser deprimierenden Metapher aufblickte, war er verschwunden, und Estelle stand strahlend vor mir. Ihre Augen waren feucht vor Glück, und ich gab einem Impuls nach und nahm sie an Ort und Stelle in die Arme – zum Teufel mit der Vorsicht!
    »Endlich«, stöhnte ich, kaum fähig zu atmen.
    Sie war blaß, und ich fürchtete, daß sie ohnmächtig werden würde.
    »Komm«, sagte ich, den Arm um sie legend und sie mit mir ziehend. Ich winkte dem Gepäckträger, uns zu folgen, und dann saßen wir auch schon auf dem Rücksitz eines Taxis, das uns zu unserem Liebesnest brachte. Ihre Hand war kalt trotz der Wärme des Tages; ich zog sie an meine Lippen und fühlte ihre Finger unter meinem Einfluß warm werden. Als wir ankamen, hatte sie sich schon beträchtlich erholt (obwohl ich es noch immer nicht für angebracht hielt, sie nach dem jungen Mann zu fragen, mit dem sie zusammen gereist war), und als sie die Wohnung sah und von einem Zimmer ins andere lief, lebte sie vor Begeisterung gleich wieder auf.
    »Es gibt noch eine Menge zu

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