Das geheime Lied: Roman (German Edition)
auf seinem Bett ruht, auf der Seite des gesunden Beins.
Er sah zu seinem Freund hoch.
»Ich bleibe und leiste dir Gesellschaft«, flüsterte Fabien. »Du musst nichts weiter tun, als es zu lesen.«
Nach dem, was er sich im Theater geleistet hatte, war das wirklich nicht zu viel verlangt. Michael sagte nichts weiter, ließ nur ein ersticktes Seufzen vernehmen und wandte sich wieder dem Text zu:
Ich bin ein König, der hier auf seinem Bett ruht, auf der Seite des gesunden Beins. Wundbrand zerfrisst mich, und während ich diese Zeilen schreibe, erfasst mich lähmende Angst. Viel größer als die, die Matthieu verspürte, als die Wellen ihn auf den Grund des Meeres zu reißen drohten. Ich schaudere vor Entsetzen, fürchte aber nicht den Tod, sondern vielmehr das, was mich im Jenseits erwartet. Meine Hand zittert so sehr, dass ich immer wieder die Feder beiseitelegen muss, weil ich Tinte vergieße und die Zeilen beschmutze, die ich bereits geschrieben habe.
Als ich Frankreichs Thron bestieg, war ich erst vier Jahre alt. Ich hatte siebzehn Kinder von drei Müttern, führte siegreiche Kriege, beherrschte Europa und erweiterte die Kolonien. Das alte Jagdschloss Versailles verwandelte ich in den prunkvollsten Palast der bekannten Welt, der fremde Botschafter überwältigte und die Künstler berauschte, die in seinen Gärten Musik, Tanz und Theater darboten. Und jetzt, in welchem Winkel meiner Seele ist dies alles nun zu finden? Wie kann es sein, dass mir nicht einmal ein loses Blütenblatt von all dieser Pracht geblieben ist? Wie kann ich denn bloß den Verbrennungen ebenjener Sonne erliegen, die mir den Namen gegeben hat? Verfluchter Wundbrand, verdammte sterbliche Hülle!
Das Blut in meinen Adern stammt von Habsburgern und Medici – dennoch verdirbt es, und ich kann nichts dagegen tun. All meine ehelichen Kinder sind tot, und als Erbprinz bleibt mir nur ein fünfjähriger Urenkel. Mein Vermächtnis wird aus einem eitlen Kampf um die Thronfolge bestehen, um meine Besitztümer, um Frankreich. Und Versailles wird mit mir untergehen, Stein für Stein.
Und deshalb schreibe ich hier bei trübem Kerzenschein, während ich die neue Mischung von Aromen einatme, die der königliche Parfümeur zusammengestellt hat, um die Fäulnis meines Körpers zu überlagern. Ich schreibe in einer unbequemen Haltung und stütze das Pergament dabei auf meinem Seidenkissen auf. Der Schmerz in meinem Bein ist jedoch nichts gegen den, der mir die Seele zerfrisst.
Ich liege im Sterben, und dabei peinigt mich eine einzige Erinnerung: die an die Augen eines jungen Hofmusikers, den ich ohne Gnade nach Afrika schickte. Matthieu Gilbert, so hieß dieser einzigarte, einmalige Mensch, der Violinist, dem ich es verwehrte, mir den Weg zur Mondinsel zu zeigen. Nicht ich, sondern er ist wohl dem Samen eines Gottes entsprungen. Selbst nach alledem, was ich ihm angetan hatte, bot er mir noch das Beste, was er besaß. Und ich habe ihn verachtet, habe auf ihn herabgesehen … Jedes einzelne seiner Worte voller Schönheit, voll vollkommener Arglosigkeit und Reinheit, quälte mich. Seine Vergebung war meine Strafe. Warum hast du mich nicht gehasst, verfluchter Matthieu?
Ich richte mich auf, schiebe lustlos das Pergament beiseite und betrachte meine Umgebung: die Teppiche mit Jagdszenen an den Wänden meiner privaten Gemächer, den Tisch mit Karten der Gebiete, die jüngst kapituliert haben, die Schnallenschuhe mit Perlen, die meine Gemahlin beim Handwerksmeister auf der Saint-Michel-Brücke gekauft hat, und mir wird klar, dass ich einfach alles falsch gemacht habe. Deine Musik war wie das Leben: Sie war Leidenschaft, Macht und Schmerz. Warum konnte ich nicht erkennen, dass deine Geige der Schlüssel zu meiner Erlösung war, zur Erlösung Frankreichs und der ganzen Welt?
Wie anders hätte mein Tod dann ausgesehen! Ich weiß, dass mir lediglich ein paar Stunden bleiben, bevor auf meinem Bett bloß ein Bündel totes Fleisch liegt, und ich denke nur noch zurück an die Nacht, in der du dein erstes Unwetter komponiert hast …
ERSTER AKT
1
M atthieu wurde 1664 in einem Stadtviertel von Paris gezeugt, in dem es von Ratten und Geigen nur so wimmelte. Seine Mutter, die junge Marie, arbeitete als Dienstmädchen im Haus eines Schreibers, der dumm genug war, sie am Ende des Frühlingsfestes zum Tanz gehen zu lassen. Matthieus Vater konnte jeder der drei Soldaten sein, die am Osttor des Platzes Wache standen, um Händel zu vermeiden. Marie wusste nie mit Sicherheit zu
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