Das geheime Lied: Roman (German Edition)
bedingungslose Liebe der neun Musen seines Himmelschors zugesagt hätte.
Der Komponist wusste genau, wie er die musikalische Erziehung der Jungen zusätzlich zu den Unterrichtsstunden und langen Übungseinheiten gestalten musste. Er nahm sie gerne zu einem Geigenbauer mit, der dafür bekannt war, die besten Violinen in ganz Frankreich anzufertigen, damit sie sich mit dem Instrument von dem Moment an vertraut machen konnten, in dem es noch nichts weiter war als ein Stück Holz. Matthieu beobachtete für sein Leben gern, wie der Meister die Stücke mit der Bürste bearbeitete. Er stibitzte feine, hauchzarte Späne, die ein paar Sekunden in der Luft schwebten, bevor sie zu Boden sanken, und ließ die Fingerspitzen über jeden Winkel der frisch polierten Geige wandern, als erforsche er den Körper einer Geliebten. Und Jahre später ertappte sich Matthieu mehr als einmal dabei, dass er Frauen liebkoste, als hielte er ein Instrument aus feinstem Zedernholz im Arm.
Die Besuche beim Geigenbauer waren nicht die einzigen Ausflüge, die die drei unternahmen. Als Matthieu und Jean-Claude die Pubertät hinter sich ließen, fingen sie an, ihren Onkel zu den Treffen gelehrter Köpfe zu begleiten, die jeden Mittwoch im Palast von Mademoiselle de Guise stattfanden, der Gönnerin des Komponisten. Marie de Lorraine, so hieß die Duchesse, hatte Charpentier an jenem Tag die Türen zu ihrem Haus geöffnet, als dieser vor vielen Jahren aus Italien zurückgekehrt war, wo in Rom die berühmtesten Musiker jener Zeit all ihr Können an ihn weitergegeben hatten. Seitdem lebte Charpentier unter ihrem Schutz und fehlte deshalb bei keiner der wöchentlichen Zusammenkünfte, die sie in ihrem Palais für die herausragendsten Musiker und Denker der Stadt organisierte. Matthieu und Jean-Claude sehnten jedes neue Treffen herbei. Sich in demselben Raum zu befinden wie all diese künstlerischen Genies war für sie eine faszinierende Erfahrung, auch wenn ihr Onkel sie dabei stets in eine diskrete Ecke verbannte.
In letzter Zeit war bei diesen Versammlungen immer wieder das Thema Alchemie zur Sprache gekommen, ein düsterer Stoff, der ihren Onkel und seine Diskussionspartner fesselte. Matthieu würde niemals das letzte Treffen vergessen, an dem er teilnahm, bevor sich seine ganz Welt verändern sollte. Die Anwesenden waren bereits ins Gespräch vertieft, als Dr. Evans erschien, ein englischer Arzt, der sich vor einigen Monaten in Paris niedergelassen hatte und bald zu ihrer Gruppe gestoßen war.
»Habt ihr es etwa gewagt, ohne mich zu beginnen, ihr undankbaren Kameraden?«, rief er von der Tür aus und legte mit gestelzter Geste seinen Kapuzenmantel ab.
»Wer, wenn nicht Ihr, könnte uns auf den verschlungenen Pfaden der Alchemie führen?«, entgegnete die Duchesse, und die anderen Anwesenden lächelten beifällig.
»Jetzt holt schon Euer verdammtes Buch hervor!«, warf Charpentier ungeduldig ein. Damit meinte er einen faszinierenden Band mit dem Titel Atalanta Fugiens , welches der Engländer zu jedem Treffen mitbrachte.
Es handelte sich um ein Werk, das ein halbes Jahrhundert zuvor ein Deutscher namens Michael Maier verfasst hatte und in dem auf sehr anregende Art und Weise Alchemie und Musik in Verbindung gebracht wurden. Es steckte voller Texte, die mit zahlreichen Kupferstichen und fünfzig Partituren von Maier komponierten Fugen illustriert waren, und forderte somit zum Denken, Betrachten und Zuhören zugleich auf. Matthieus Onkel war von diesen musikalischen Rätseln wie besessen, der junge Mann hatte ihn noch nie zuvor so erlebt.
Dr. Evans schlug das Buch an einer markierten Seite auf, und sogleich wurde damit begonnen, das Geheimnis eines der Verse zu enträtseln. Bereits nach kurzer Zeit nahm Charpentier am Cembalo Platz, um die hermetische Melodie zu interpretieren, die zu dem Fragment gehörte. Die Duchesse und ihre Gäste gaben sich in diesem Moment einer Art Trance hin, dem idealen Zustand, um dem alchemistischen Mysterium auf den Grund zu gehen. Dr. Evans stand jedoch auf einmal aus seinem Sessel auf, näherte sich Charpentier und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er wartete keine Antwort ab und durchquerte verstohlen den Raum, ohne dass die anderen etwas davon merkten. Nur Matthieu beobachtete ihn dabei.
Als Matthieu und Jean-Claude an jenem Abend in das Häuschen heimkehrten, das sie gemeinsam in der Pariser Innenstadt bewohnten, konnten sie nicht ahnen, dass diese heimlichen Worte, die ihrem Onkel mit englischem Akzent ins Ohr
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