Das geheime Prinzip der Liebe
Es war zu schön, um ein Atelier zu sein, aber davon wollte sie nichts hören. ›Liebe Annie, wenn ich dir doch sage, dass es mir Freude macht ...‹
Bei allem anderen war es genauso. Ich habe nie etwas verlangt, sie hat mir alles geschenkt, was ich brauchte. Kaum hatte ich eine Leinwand bemalt, tauchte wie durch Geisterhand eine neue auf. Sie dachte an alles und bat sogar einen Freund, mir Unterricht zu geben. Alberto war ein wunderbarer Maler und Bildhauer. Er kam jeden Donnerstag extra wegen mir aus Paris.
Sie war so nett zu mir.
Ich hatte zwar bald gemerkt, dass sie nicht glücklich war, aber ich wusste nicht, weshalb. In meinen Augen hatte sie alles, was das Leben bieten kann.
Zuerst dachte ich, sie sei krank. Diese Idee hatte mir ihr Dienstmädchen Sophie in den Kopf gesetzt. Eines Morgens traute ich mich nicht, L’Escalier zu betreten, weil ein Auto in der Auffahrt stand und ich dachte, das sei vielleicht ihre neue Freundin, ihr ›neuer Spleen‹. Wo mir doch Vater fortwährend erzählt hat, dass ich mir keine Illusionen machen soll, dass sie und ich nicht zur selben Welt gehören, dass sie mich im Handumdrehen ersetzen wird. Ich machte kehrt und ging wieder nach Hause.
Zwei Stunden später hat Sophie an unsere Tür geklopft, um sich nach mir zu erkundigen. Madame M. fürchtete, ich wäre krank. Ich habe Sophie das mit dem Auto erklärt, und sie meinte, ich sei dumm, ich sei in L’Escalier jederzeit willkommen. Schließlich gehe es Madame M. immer besser, seit sie mich kennengelernt habe.
Dieser Satz hat mich erschreckt. Ich habe Sophie gefragt, ob Madame M. krank ist.
Sie half mir, meinen Mantel anzuziehen. Nein, nein, sie wollte damit nur sagen, dass Madame glücklich ist, mich um sich zu haben, egal, ob ein Auto in der Auffahrt steht oder nicht.
Ich merkte ganz deutlich, dass das nicht die Wahrheit war.
Ungefähr zwei Wochen später habe ich noch deutlicher gespürt, dass etwas nicht stimmt. Diesmal stand das Auto von ihrem Mann vor dem Haus. Meistens war er schon unterwegs in die Redaktion, wenn ich kam. Ich hatte keine große Lust, ihn zu treffen, aber ich konnte auch nicht wieder kehrtmachen. Madame M. hätte meine Höflichkeit für
Dummheit gehalten. Ich hatte ihr versprochen, dass ich nie mehr Angst haben würde, sie zu stören. Also bin ich reingegangen, aber ich habe es sogleich bereut. Sie stritten sich gerade, und er schimpfte, so könne es nicht weitergehen, sie seien nicht hierher gezogen, damit sie über ihr Schicksal jammert, sondern damit es ihr besser geht. Sie würde ihr Problem nicht lösen, indem sie sich von der Welt abkapselt, und er habe keine Lust, jeden Abend eine Frau vorzufinden, die sich nur um Zeichenkohle und Acrylfarben kümmert. Er schien außerdem wütend zu sein, weil sie sich nicht für die politische Entwicklung interessierte. Sie hat ihn angeschrien, er solle verschwinden und seinen Lesern erklären, wie sich die Welt entwickelt, anstatt ihr endlich einmal zu erklären, wie es mit ihrer Welt weitergehen soll.
Er kam aus dem Salon gerannt und sah ganz bestürzt aus. Als er an mir vorbeikam, hielt er mich für Sophie: ›Haben Sie nichts zu tun?‹
Madame M. ist ihm hinterhergelaufen. Sie sah ihm nach und flüsterte Sätze, die ich nicht verstand. Als sie sich umdrehte, stand sie direkt vor mir. ›Was treibst du hier und lauschst?‹
So hatte sie noch nie mit mir gesprochen. Ich habe gar nicht versucht, mich zu rechtfertigen, sondern bin gegangen. Aber sie kam mir nach und entschuldigte sich. Sie hätte sich nicht hinreißen lassen dürfen. Ich könne nichts dafür und sie wolle nicht, dass ich gehe.
Sie hatte mir wehgetan, aber ich nahm ihre Entschuldigung an. Das hätte ich nicht tun sollen.
Wie es manchmal bei einem Streit vorkommt, waren wir uns danach noch näher als zuvor. Madame M. las keine Romane mehr, sicher wegen der Vorwürfe ihres Mannes. ›Für Geschichten ist kein Platz in diesen Zeiten, wer sich
in ein Buch vertieft, wendet dem Feind den Rücken zu.‹ Sie ahmte die Stimme ihres Mannes nach.
Ich bat sie, dann eben die Zeitung vorzulesen.
So haben wir angefangen, miteinander zu sprechen. Wir diskutierten über die Artikel und waren überrascht, wie gut wir uns verstanden. Wir waren zehn Jahre auseinander, aber dieser Altersabstand trennte uns eigentlich nicht.
Sie hatte nie mit einem so jungen Mädchen wie mir zu tun gehabt. Sie hat mir erzählt, dass ihr Reichtum sie von ihrer eigenen Generation getrennt hatte. In Paris waren ihre
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