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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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erinnerte ich mich, dass der Brief darin den vorherigen glich.
    Dass ich darauf nicht früher gekommen war! Der Tod meiner Mutter hatte mich wahrhaftig aus dem Tritt gebracht. Die Briefe waren durchaus für mich bestimmt. Hinter diesem Louis steckte niemand anderes als ein Autor, der mir auf diesem Umweg sein Manuskript schickte.
    Ich bekam zu viele Texte angeboten, um sie alle lesen zu können. Sie stapelten sich auf meinem Schreibtisch, was die Autoren wussten, vor allem die, die nie veröffentlicht wurden. Deshalb hatten diese Briefe nicht die traditionelle Form, es waren Teile eines Buches, das ich Woche für Woche geschickt bekam.
    Ziemlich dreist, aber nicht dumm. Der Beweis: Ich las sie.

    Ich beobachtete meine Autoren und versuchte, sie durch Andeutungen in die Falle zu locken, ich hoffte, einer von ihnen werde sich verraten. Sie müssen damals wohl gedacht
haben, ich sei durchgedreht. Ich prüfte ihre Handschrift, lauerte auf ein großes »R« zwischen den Kleinbuchstaben. Ich roch an ihnen, suchte nach dem holzigen Duft, den die Briefe verströmten.
    Ich ging alle Möglichkeiten durch. Der? Es würde zu ihm passen, etwas über seine Kindheit zu schreiben, es wurde sowieso zu einer Mode, von sich selbst zu erzählen. Wenn er es war, würde ich ihm die Briefe um die Ohren hauen: Von dir erwarte ich einen richtigen Roman! Ich würde auf die Brille zielen, hoffentlich würde sie herunterfallen. Ich habe mich immer schon gefragt, wie er ohne Brille aussieht.
    Ich war überzeugt, dass der Absender dieser Briefe irgendwann in meinem Büro auftauchen würde. Ein Unbekannter vielleicht, der darum bitten würde, mich zu sehen. Er würde mir das Ende seines Manuskripts bringen und sich entschuldigen, mich in die Irre geführt zu haben. Fünfzig Jahre lang habe er niemanden in die Irre geführt, fünfzig Jahre habe sich niemand für ihn interessiert, deshalb habe er beschlossen, die Methode zu ändern ...

    Und wenn es die kleine Praktikantin war, die seit September bei uns arbeitete? Mélanie. »Kommt es auch vor, dass eine Praktikantin bei Ihnen Autorin wird?« Wenn sie dachte, dass ich sie nicht durchschaute mit ihren Fragen … Nein, unmöglich, sie war zu jung, diese Briefe waren das Werk einer älteren Person, das spürte man, außerdem war sie zu hübsch, um so zu schreiben.
    Ausgerechnet Mélanie riss mich aus meinen Gedanken, eine Hand über dem Mikrophon des Telefons, damit Nicolas am anderen Ende der Leitung sie nicht hörte: »Ihr Freund will Sie unbedingt sprechen.«
    »Sagen Sie, ich bin in einer Sitzung.«

    »Das habe ich ihm gesagt, aber er hat seit heute früh schon fünfmal angerufen, er behauptet, er weiß, dass Sie nicht in einer Sitzung sind. «
    »Wenn er nicht akzeptiert, dass ich in einer Sitzung bin, dann richten Sie ihm aus, dass ich ihn nicht sprechen will. Wenn man lügt, lassen die Leute nicht locker, also sagen wir ihm die Wahrheit. «
    Wenn ich ihm die ganze Wahrheit sagte, würde er bestimmt lockerlassen, gar kein Zweifel, dann würde Monsieur vielmehr die Beine in die Hand nehmen.
    Ich konnte ohnehin nicht so weitermachen, Tag und Nacht arbeiten, das war nicht gut. Ich beschloss, früher nach Hause zu gehen, zumal ich sicher war, einen Brief vorzufinden. Es war Dienstag, und die Briefe kamen immer dienstags, das war mir aufgefallen. Der Absender hatte die Manie eines Serienkillers.

    Damals fand ich die Briefe noch unterhaltsam, geradezu erfreulich; ein bisschen etwas Geheimnisvolles in dieser Welt, der es gänzlich daran fehlte, gefiel mir ganz gut. Außerdem wollte ich die Fortsetzung erfahren. Was war denn so Schreckliches bei den M.s passiert?
    Ich ahnte keine Sekunde, was mich erwartete.
    Das Undenkbare existiert, ich bin der Beweis.

    Wieder irrte Annies Blick in der winzigen Küche umher. Wieder rührte sie mit dem Löffel in der Tasse. Ihr Zichorienkaffee musste längst kalt geworden sein. Dann schien ein Ruck durch sie zu gehen, und Annie begann zu erzählen.

    »Ich war fast jeden Tag bei ihnen. Ich habe gemalt, und Madame M. hat vorgelesen. Das war schön, sie hat die Personen wie Rollen gespielt und zum Leben erweckt. Ich habe mich in ihrer Gesellschaft wohlgefühlt, weil ich nicht reden musste, wenn ich nicht wollte. Das hatte ich vorher nie erlebt. Sie war so großzügig zu mir.
    Madame M. hat mir ein ganzes Zimmer zur Verfügung gestellt. Sie sagte dazu ›das Zimmer ohne Wände‹, weil die Wände von einem riesigen Spiegel und schweren, roten Vorhängen bedeckt waren.

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