Das geheime Prinzip der Liebe
Freunde alle älter als sie. Mich lernte sie nun immer besser kennen. Einmal hat sie gesagt, sie findet es angenehm, mich gernzuhaben. So hat sie es formuliert.
Wir landeten immer bei den Leserbriefen. Oft mussten wir lachen, auch wenn sie nicht lustig waren. Wir konnten nicht begreifen, dass Frauen ihre Probleme jemandem erzählen, den sie nicht kennen. So stießen wir auf das Unglück der armen Geneviève.
›Mein Mann betrügt mich, er isst abends nie mit mir und kommt erst spät nach Hause. Was soll ich tun?‹
Darauf antwortete die Journalistin:
›Liebe Geneviève, dieses Schicksal teilen Sie leider mit vielen Frauen. Wenn Sie Ihren Gatten lieben, empfangen Sie ihn weiterhin so aufmerksam, wie Sie es bisher getan haben, ohne die Ruhe zu verlieren. Ihre Vorwürfe würden ihn nur noch mehr von Ihnen entfernen, deshalb rate ich Ihnen dringend, auch in Zukunft eine vorbildliche Ehefrau zu sein. Ihr Gatte wird von seinem verwerflichen Lebenswandel ablassen und wieder ganz der Alte werden.‹
Ich erinnere mich an diese Antwort wegen der Reaktion von Madame M.
›Wofür hält sich diese Journalistin eigentlich? Anderen
zu raten, was sie tun oder lassen, was sie denken oder fühlen sollen … Außerhalb ihrer Normen gibt es kein Glück. Ich ertrage dieses Geschwätz nicht mehr!‹
Sie wurde schrecklich wütend, einfach so, ganz unerklärlich. Ich war überrascht, denn sonst brachte uns diese Kolumne eher zum Lachen.
Mir fiel Sophies Satz ein: ›Seit Madame M. dich kennt, geht es ihr immer besser.‹ Und die Aussage ihres Mannes: ›Ich habe eingewilligt, dass wir uns hier niederlassen, damit es dir besser geht.‹
Sie war nicht von Natur aus unglücklich, es gab irgendeinen Grund. Warum hatte sie in L’Escalier Zuflucht gesucht? Vor wem oder was ›floh‹ sie, wie ihr Mann sagte? Ich ahnte, dass es keinen Sinn hätte, sie danach zu fragen. Nicht jetzt. Diese Aufwallung war nur Zorn, nicht der Anfang einer Erklärung, und weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, hatte ich einen ziemlich dummen Einfall. Ich schlug ihr vor, ›Marie-Hélène‹, so nannte sich die Journalistin, einen Brief zu schreiben. Um ihr zu sagen, wie wenig wir von ihren Ratschlägen hielten.
Als ich den Vorschlag machte, hoffte ich insgeheim, der Brief würde mir einen Hinweis darauf geben, was Madame M. zugestoßen war, aber nichts dergleichen, sie beruhigte sich ebenso schnell, wie sie sich aufgeregt hatte. Der Brief an ›Papier-Hyäne‹ aber wurde uns bald zur Gewohnheit. Wir haben nie einen abgeschickt. Das bloße Schreiben machte uns großen Spaß.
Vielleicht hätte mir Madame M. nie etwas erzählt. Aber dann kam ich eines Morgens voller Panik in L’Escalier an. Vor Aufregung hatte ich einen Asthmaanfall und ich rief: ›Ich sterbe, ich sterbe! Ich blute, ich blute!‹
Sie verstand sofort, was ich meinte. Sie lächelte und
sagte, sie hätte sich auch nicht getraut, ihren Eltern etwas zu sagen, als es ihr passierte. Um meine Schmerzen zu lindern, bat sie Sophie, mir ein heißes Bad einzulassen. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Wanne lag und auf meinen Bauch starrte, ganz erstaunt über das, was darin vor sich ging. Gab es noch viele Geheimnisse dieser Art, die mir das Leben offenbaren würde?
Die Mittagsglocke läutete. Madame M. brachte mir einen Morgenmantel. Als ich aufstand, begann das Blut wieder zu fließen und an meinen Beinen hinabzurinnen. Ich sah, wie sich der Fleck im Wasser ausbreitete, und dachte kurz, das ist ein schönes Bild. Auch Madame M. starrte auf die roten Lachen, die versuchten sich aufzulösen. Dann warf sie mir einen merkwürdigen Blick zu. Als ich aus der Wanne stieg, zog sie vor meinen Augen ihr Kleid und die Unterwäsche aus und legte sich in mein blutiges Badewasser.
Ich werde das nie vergessen, so unangenehm war es mir. Und auf einmal wusste ich, dass sie mir jetzt alles erzählen würde ...
Es hatte gleich nach ihrer Hochzeit angefangen. Sie war neunzehn, ihr Mann zwanzig. Der schreckliche Tod ihrer Eltern hatte sie niedergeschmettert. Sie waren unglücklich, und die Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern. Ihr Mann wollte die Familiengeschäfte nicht übernehmen. Der Grundbesitz, die Güter, die Unternehmen, er beschloss, alles zu verkaufen. Schon damals hatte er nur den Journalismus im Kopf. Sie verbrachten Monate damit, alles zu regeln, ihnen blieb für nichts anderes Zeit. Dann aber dachten sie an ihren Reichtum. Wozu ist ein Vermögen gut, wenn man es an niemanden
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