Das geheime Prinzip der Liebe
entscheiden.‹
Sie fragte mich nicht mehr nach meiner Meinung. Sie erklärte mir bis ins Detail, wie alles gehen würde. Ich würde nichts tun müssen, und es würde nicht lange dauern. Sie hatte alles vorbereitet. Ihr Mann würde in einer Stunde nach Hause kommen, und wir sollten die Gelegenheit nutzen.
Ich konnte nicht fassen, dass er einverstanden war. Ich konnte überhaupt nichts fassen.
›Warten wir bis morgen.‹
Das war alles, was ich zu sagen vermochte. Ich spürte, dass ich in mein Unglück lief, aber ich brachte nicht mehr Mut auf als diesen Aufschub. Warten wir bis morgen. Ich wollte nicht, dass es unter diesen Bedingungen geschah. Nicht mit einem Mann, den ich nicht kannte. Nicht beim ersten Mal.
Madame M. hat sicher geglaubt, ich wollte mich drücken, aber darum ging es nicht. Ich brauchte nur etwas
Zeit. Ich würde mein Versprechen halten. Ich konnte nicht mehr zurück, denn ich hatte sie noch nie so glücklich erlebt. Außerdem hatte ich nicht einmal Angst. Nach ihren ausführlichen Erklärungen kam es mir vor wie ein Arztbesuch. Nicht mehr und nicht weniger. Und an Arzttermine war ich gewöhnt.
Ich wollte allein sein. Vor einer Leinwand. Nicht um zu überlegen, vielmehr um nicht mehr zu denken. Madame M. war verlegen. Als ich das ›Zimmer ohne Wände‹ betrat, verstand ich warum. Über Nacht war ein Bett aufgetaucht. Der Spiegel war hinter einem Vorhang verschwunden, der noch röter, noch neuer als die anderen war. Ich konnte nicht in diesem Zimmer bleiben. Als ich die Auffahrt hinunterging, traf ich ihren Mann. Ich wagte nicht, ihn anzusehen.
Aber am nächsten Tag war ich pünktlich. Und alles verlief so, wie sie es erhofft hatte. Ich wurde schwanger, wie Madame M. es vorhergesagt hatte: ›Mit der Effizienz einer Jungfrau‹.
Vier Monate später fuhren wir fort. Ehe mein bewohnter Körper mich verriet. Sie hatte alles vorbereitet. Wir würden das Dorf für die Zeit meiner Schwangerschaft verlassen und nach der Entbindung wiederkommen. Dann würde das Leben weitergehen wie zuvor. Als wäre nichts geschehen, nur dass sie endlich das Kind in den Armen halten würde, das ihr so schrecklich fehlte.
Wie konnte ich damals bloß glauben, es würde so einfach sein?«
Während Annie erzählte, war sie, ihre Tasse mit Zichorienkaffee in der Hand, in der Küche umhergelaufen. Plötzlich schien sie der Tasse gewahr zu werden, stellte sie auf den Tisch und setzte sich neben mich auf das Bett.
»Du bist der erste Mensch, dem ich diese Geschichte erzähle. Ich hatte sie meinen Eltern in einem Brief geschrieben, aber sie haben ihn nie bekommen. Dabei hatte mir Sophie geschworen, sie würde ihn einstecken. Das werde ich ihr nie verzeihen. «
Annie erwartete sicher, dass ich sie ausfragte: »Was ist passiert? Wo ist dein Kind?« Ich aber hatte in meiner armseligen Eifersucht nichts Besseres zu tun, als sie zu kränken.
»Der gute Monsieur M. hatte also nicht mehr Glück als ich. Ein einziges Mal, dieses Schicksal teilen wir!«
Ihr Gesicht verschloss sich, sie hatte Tränen in den Augen. Aber diesmal kümmerte ich mich nicht darum, um sie, um das, was ihr zugestoßen war, um ihr Unglück, ich dachte nur an mich und wollte sie für das bezahlen lassen, was sie mir trotz der Jahre noch schuldete: für meine enttäuschte Liebe.
Ihr Ehering brannte in meinen Augen. Sie wusste offenbar nicht, wie sie mir sagen sollte, dass sie verheiratet war.
Die Kirchenuhr schlug sieben. Plötzlich steckte Annie die Hand in die Tasche ihres Pullovers und erklärte, sie habe vergessen, ihrer Kollegin die Schlüssel dazulassen. Sie müsse den Laden zuschließen, in dem beide arbeiteten, es tue ihr leid, sie müsse sofort hin, sonst werde sie womöglich entlassen. Annie bat mich, auf sie zu warten, sie habe mir so viel zu sagen, sie flehte mich an, ihr zu verzeihen, wenn sie mir wehgetan hätte, sie habe es nicht gewollt. Es tue ihr unendlich leid. Sie zog hastig ihre Schuhe an und eilte mit offenen Schnürsenkeln hinaus. Ich hörte, wie sich ihre Schritte auf der Treppe entfernten, ich hatte meine Schülergewohnheiten nicht vergessen.
Dieses Wiedersehen berührte mich tief. Seit fast drei Jahren wähnte ich sie verheiratet, verloren, womöglich tot,
und nun tauchte sie unverhofft wieder in meinem Leben auf. Und erzählte mir alles. Ich hatte sicher nicht so reagiert, wie sie es erwartet hatte. Aber ich kannte ihre Geschichte schon.
Sie wusste nämlich nicht, dass Sophie Wort gehalten und dass ihre Mutter den Brief
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