Das geheime Prinzip der Liebe
aber nicht an die Seite, an der ich arbeite, sondern an die andere, mit dem Blick zur Küche. Es kam nicht darauf an, mich bequem hinzusetzen, sondern nicht stehen zu bleiben, vor allem nicht vor dem offenen Kühlschrank.
Und da plötzlich war mir alles klar. Weil es im Leben immer gut ist, den Blickpunkt zu verändern, die Perspektive.
Von hier aus sprang mir ein Stuka-Geschwader ins Auge, die W-förmigen Flügel.
Beim Lesen hatte ich mechanisch Ws auf den Briefumschlag gezeichnet. Nun aber, als mir der Umschlag von der anderen Seite ins Auge fiel, waren die Stukas nicht mehr erschreckend, sondern nur noch eine Armee von Ms, die mir harmlos gegenüberstand.
Madame M.
Ich drehte den Umschlag um.
M W M W.
Und wenn diese Madame M., dieses Monster, das mir
der Unbekannte Woche für Woche beschrieb, in Wirklichkeit eine Madame W. war?
Eine Madame Werner zum Beispiel?
Eine Elisabeth Werner, wie meine Mutter?
Also meine Mutter?
Mir wurde speiübel und ich musste mich übergeben.
War es tatsächlich möglich, dass das mein Leben war? Mein Leben vor meinen Erinnerungen?
Ich wollte es nicht glauben, aber ich konnte es auch nicht mehr ganz und gar leugnen. Diese Briefe offenbarten mir zu viel, mit zu vielen Details. Ich musste diesen Unbekannten finden, verdammt noch mal, er musste es mir erklären!
Er schrieb nichts über sich, aber wenn ich alle Briefe, die ich bekommen hatte, von Anfang an durchging, musste doch wohl ein Hinweis zu finden sein, der mich zu ihm führen würde.
Ich erwartete den nächsten Dienstag mit großem Unbehagen, ich hoffte, dass er mir die Auflösung brachte, und ich fürchtete es zugleich.
Ich kam nicht so schnell voran wie in den anderen Nächten. Annie ließ mich langsamer gehen, nicht weil sie mich behinderte, sondern weil sie es war. Das Glücksgefühl, ihr Gewicht auf meinen Hüften zu spüren, erfüllte mich und ließ das Begehren aufsteigen. Es war schön, so schön zu wissen, dass sie mich nicht loslassen, sich nicht von mir lösen konnte. Ich hätte die ganze Nacht so laufen mögen. Wenn man mir am Morgen dieses 4. Oktober 1943 gesagt hätte, dass ich nach Mitternacht Annie auf dem Rücken tragen würde, hätte ich es nie geglaubt.
Die Hände unter Annies Po, ging ich so lautlos wie möglich und dachte dabei an den Tag, an dem ich meinte, sie für immer verloren zu haben.
»Annie war nicht mal bei der Beisetzung. Ihre eigene Mutter, ist das zu fassen?«
Meine Schwester, die gern jedes Geschwätz aufnahm und dann mindestens dreimal ihren Kommentar dazu abgab, hatte sich diesmal auf eine Erwähnung beschränkt. Mit dem Exodus war der Tod selbst für sie zu greifbar geworden, als dass sie sich daran ergötzt hätte, darüber zu sprechen.
Trotzdem konnte niemand verstehen, dass eine Tochter nicht zur Beisetzung der Mutter kam. Ich verstand es. Was hat diese letzte Verabredung für einen Sinn, wenn niemand da ist, um dich zu erwarten? Und für Annie war es noch
schlimmer, nicht einmal der Körper ihrer Mutter war da. In dieser Kirche war nichts als der Schmerz der Abwesenheit.
Annie hatte das Dorf an dem Tag verlassen, an dem die Gedenkmesse für ihre Mutter stattfand. Ich wusste, dass sie nicht nur vor dieser Messe floh, sondern endgültig fortgegangen war, und ich war fest entschlossen, sie zu suchen.
Ich hatte keine Mühe, ihre Adresse in Paris ausfindig zu machen. Auf der Post beschrieb mir ein Mann in meinem Alter mit einem unerklärlichen Grinsen den Weg. Er schien die Gegend gut zu kennen. In der Querstraße sei eine Bildergalerie, ich müsse daran vorbeigehen, dann sei es die erste rechts. Nummer 65.
Ich klingelte.
Madame M. öffnete mir die Tür. Sie hielt das Baby in den Armen. Annies Kind, ich konnte es nicht fassen. Ich konnte die Augen nicht von ihm lösen. Sie drückte es an sich.
Nein, Annie sei leider nicht da, sie habe nichts mehr von ihr gehört, aber sie hoffe weiter, dass sie eines Tages zurückkomme. Sie sei ihr nicht böse, nein, sie wisse, dass einen die Liebe oft eine Freundschaft vergessen lasse, zumindest in der ersten Zeit, außerdem könne sie, Madame M., ihr bestimmt keine Lehren erteilen, denn mit einem Kind sei es genauso wie mit einem Mann. Annie sei sicher bei ihm, er habe wohl das Glück, nicht in Gefangenschaft zu sein, und sie hätten sich wiedergefunden. Sie warte mit großer Ungeduld auf ihre Briefe.
Aber von wem sprach sie denn da?
Ach so! Pardon, sie habe gedacht, Annie hätte mir von dem jungen Mann erzählt, andererseits
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