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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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trat.
    Wir schlossen uns einer Gruppe von Dorfbewohnern an. Sie hatten alles hoch auf ihre Karren getürmt: Lebensmittel, Möbel, einen Vogelkäfig, zwei Kaninchenställe, zwei alte Frauen und ein Kind. Sie machten freundlicherweise ein bisschen Platz, damit sich Annies Mutter setzen konnte. Wir kamen langsam voran, ein paar unermüdliche Ziegen rannten hinter dem Karren her. Alle hatten Angst. Am dritten Tag durchquerten wir einen kleinen, verlassenen Weiler.
Vor der Apotheke sortierte ein Mann in Lumpen sorgsam die Medikamente nach Farben, und wenn er jemanden ansah, sagte er: »Eine kleine Spritze, Monsieur Touintouin, nur eine kleine Spritze!« Auf dem Platz standen ein Mann und eine Frau, auch sie in Hausschuhen und Lumpen, die »Jeanne d’Arc« und »Napoleon« antworteten, wenn man sie nach ihrem Namen fragte.
    Das waren Verrückte, die aus einem Irrenhaus weggelaufen waren, nachdem die Pfleger sie im Stich gelassen hatten und geflohen waren.
    Aber plötzlich versteckte Jeanne d’Arc ihr Gesicht in den Händen und brüllte: »Flugzeuge! Flugzeuge! Flugzeuge!«
    Tatsächlich tauchten schwarze Punkte zwischen den Wolken auf. Ein Geschwader von mehreren Dutzend Stukas mit ihren W-förmigen Flügeln und ihrem Sirenengeheul raste auf uns zu. Panik breitete sich aus.
    »Mist verdammter, sie zielen auf euch! Zieht eure Uniformen aus, macht schon!« Ein Mann schimpfte auf eine Gruppe versprengter Soldaten, die sich uns angeschlossen hatten. »Soldaten sollen gefälligst unter sich bleiben und kämpfen, ihr Schwachköpfe! Nicht sich den Zivilisten an die Fersen heften, um diese Scheiß-Stukas anzulocken!«
    Sie wären sicher handgreiflich geworden, hätten uns die »Scheiß-Stukas« nicht angegriffen. Ich schrie Annies Mutter zu, sie solle vom Karren steigen, und versuchte mir einen Weg zu ihr zu bahnen. Sie ging, so schnell sie konnte, aber sie konnte nicht rennen. Ich hörte die Maschinengewehrsalven pfeifen und sah ringsum die Erde aufspritzen. Das Bombardement war entsetzlich.
    Als wieder Ruhe einkehrte, versuchten alle, sich zu fassen, und hielten Ausschau nach ihren Liebsten. Ich war so erleichtert, denn Annies Mutter lag ein paar Meter von
mir entfernt im Graben, sie war unverletzt und sprach ihr Reuegebet. Überall ertönte Geschrei. Napoleon und Jeanne d’Arc wälzten sich vor Entsetzen auf dem Boden, wie die Verrückten, die sie waren. Und inmitten ihrer Schreie ertönte das herzzerreißende Weinen eines kleines Mädchens, dessen blutüberströmte Mutter tot vor ihm lag.
    Ich vernahm ein seltsames Geräusch, wie winzige Maschinengewehrsalven, und drehte mich um. Bienen kreisten wild um ihren vom Angriff zerstörten Stock. Es war ein erschreckender Anblick, eine Szene aus der Apokalypse.
    Plötzlich ertönten neue Schreie, frischer, lebhafter. Wie aus dem Nichts preschte ein Pferd durch eine Hecke auf uns zu. Es war wohl durch die Bomben aus seinem Stall befreit worden und völlig durchgedreht. Die Menschen rannten auseinander, um ihm auszuweichen. Als ich nach Annies Mutter suchte, war sie nicht mehr neben mir. Sie tröstete das kleine Mädchen, dessen Mutter tot vor ihm lag. Das Pferd raste geradewegs auf sie zu.
    Alles ging so schnell, ich konnte nichts tun. Sie hatte auch keine Zeit zu reagieren. Als sie das Pferd sah, war es zu spät. Sie warf sich über das kleine Mädchen, um es mit ihrem Körper zu schützen. Der Huf traf sie am Hinterkopf. Sie war sofort tot.

    »Ich hatte gehofft, dich nie wiederzusehen, so schuldig fühlte ich mich. Aber als ich nach N. zurückkam, warst du da, du warst von deiner ›Reise‹ mit Madame M. zurückgekehrt. Ich erkannte dich nicht wieder, du sahst so müde, so traurig aus. Ich las jeden Tag eure Anzeige in La Gazette und habe schließlich geantwortet. Ich war zu feige, es dir ins Gesicht zu sagen. Ich wollte nicht für immer derjenige sein, der dir den Tod deiner Mutter verkündet hat, denn
ich weiß, dass man den Überbringer einer so schrecklichen Nachricht nie mehr anders ansehen kann. Ich war nicht imstande, sie zu beschützen. Ich bitte dich um Vergebung.«
    »Es ist nicht deine Schuld.« Annie war schockiert, aber gleichzeitig dachte sie konzentriert nach. »An welchem Tag seid ihr losgegangen?«
    »Am 23. Mai.«
    »Wenn Sophie meinen Brief gleich nach meiner Entbindung eingesteckt hätte, wie sie es mir versprochen hatte, hätte meine Mutter ihn bekommen und sie wäre niemals weggegangen. Sie hätte auf mich gewartet. Da siehst du, es ist wirklich nicht

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