Das geheime Prinzip der Liebe
betäubt, wiederholte ständig dieselbe Geste, strich wieder und wieder mit dem Finger über meinen Nacken, am Haaransatz.
Über mein Muttermal.
Annie hatte mich in jenem Oktober 1943 vor dem Eingang zum Stadtbad stehen lassen, nicht ohne mir mehrmals zu versichern, dass sie schnell zurückkommen werde. Ich wartete im Café gegenüber, noch unter dem Schock dessen, was sie mir erzählt hatte.
Ich fragte mich, was sie Sophie wohl angetan hatte, um »es ihr heimzuzahlen«, den Brief nicht abgeschickt zu haben. Sie hatte so viel Hass in den Augen gehabt, als sie das sagte. Was ich mir vorstellte, war noch weit unter der Wahrheit, und ich werde mir mein Leben lang nicht verzeihen, dafür verantwortlich zu sein ...
Eine Viertelstunde, nachdem sie mich verlassen hatte, klopfte Annie an das Fenster neben dem Tisch, an dem ich saß, und lächelte mich an. Sie hatte etwas Lippenstift aufgelegt. Sie war schön, noch schöner als früher in N. Ihr Soldat hatte wirklich Glück. Es kam mir seltsam vor, dass sie sich schminkte, sie war jetzt wirklich eine Frau. Aber ich war auch zum Mann geworden, und zu spüren, dass man älter wird, ist immer etwas traurig, auch wenn man jung ist und sogar, wenn man ein Mann ist.
Sie machte mir Zeichen, zu ihr nach draußen zu kommen. Sie roch verlockend. Sie habe von einem Restaurant gehört, wo man noch gute Sachen bekomme.
Nachdem wir bestellt hatten, wollte sie ihren Bericht sogleich fortsetzen, aber ich unterbrach sie, ich musste es jetzt gestehen, sonst war es zu spät: » Ich habe euch das
Telegramm geschickt. Deine Mutter ist vor meinen Augen gestorben.«
Annie legte fassungslos die Gabel aus der Hand.
Wenigstens eine Wahrheit musste ich in dieser von Lügen gespickten Geschichte gestehen. Ich konnte ihr nicht von dem Brief erzählen, den sie ihrer Mutter geschickt hatte, aber das mit dem Telegramm musste ich ihr erklären.
Als der Exodus begann, hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich das Dorf verließ, sie ertrug die Vorstellung nicht, ich könnte den Deutschen in die Hände fallen. Wäre mein Vater nicht an der Front, hätte er es ebenfalls von mir verlangt, davon war sie überzeugt. Sie selbst würde mit meinen Schwestern zu Hause bleiben, das sei ihre Pflicht. Sie hatte eines schönen Morgens ihren Kurzwarenladen geschlossen und den Unterricht für die Jüngsten übernommen, denn Mademoiselle E. war eines Tages in der Landschaft verschwunden wie so viele andere.
Meine Mutter sagte immer wieder, bei mir sei es etwas anderes, ich würde nicht flüchten wie die vielen Feiglinge, sondern fortgehen, um uns zu verteidigen, falls es schlimmer werden sollte. Es sei meine Pflicht, den Anweisungen der Behörden zu folgen. »Alle Jungen über sechzehn müssen sich dem Zugriff des Feindes entziehen.«
Ich wollte mich mit vier Freunden auf den Weg machen, die auch beschlossen hatten zu gehen. Wir wussten nicht genau wohin und wollten erst mal die Seine überqueren, um uns vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Da dachten wir noch, die Armee würde sie vorher zum Stehen bringen.
Ich hatte Annies Mutter versprochen, mich von ihr zu verabschieden. Sie saß im Hausflur auf demselben Hocker
wie an dem Nachmittag, als sie mir gestanden hatte, sie könne nicht lesen. Das aber erwähnte ich Annie gegenüber nicht. Sie hatte ihren Mantel an und einen kleinen Koffer zwischen den Füßen. Sie erwartete mich. Wenn ich nicht wisse, wohin, sie wisse es. Nach Collioure, Annie finden. Ob ich mit ihr kommen wolle? Sie würde auf jeden Fall losgehen. Ich bräuchte gar nicht zu versuchen, sie davon abzubringen, die letzten Bombardements hätten sie überzeugt. Sie würde keine Minute länger bleiben und darauf warten, dass die Flammenwerfer der Boches ihr den Hintern verbrannten, erst recht nicht jetzt, da der Kurzwarenladen geschlossen sei und ihre intelligenten Augen sie verließen – so nannte sie mich, ihre »intelligenten Augen«. Sollten wir uns verabschieden oder würden wir Annie zusammen suchen gehen?
Ich konnte sie nicht im Stich lassen, sie würde nicht allein zurechtkommen, ich konnte sie auch nicht meinen Freunden aufhalsen, die ich deshalb allein gehen ließ.
Die Leute schrien, schubsten, stritten, jeder wollte noch in den Zug steigen, um zu fliehen, denn die Deutschen konnten jeden Moment auftauchen. Sie bombardierten alle Bahntransporte. Ich beschloss, die große Straße zu nehmen, eine Menge in Bewegung schien mir weniger gefährlich als eine Menge, die auf der Stelle
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