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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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deine Schuld.«
    Hätte Annie mir meine Schuld deutlicher vor Augen führen können?

    Plötzlich tippte mir der Kellner auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, aber Sie müssen jetzt wirklich gehen. Wir schließen.«
    Es war eine Viertelstunde vor Mitternacht, wir hatten nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Wir waren die Letzten, die Stühle standen schon auf den Tischen. Als sich die Restauranttür hinter uns schloss, hörten wir die Lautsprecher auf den Polizeiautos krächzen: »Hallo, hallo, jeder, der nach Mitternacht auf der Straße angetroffen wird, wird festgenommen und bleibt bis fünf Uhr morgens in Polizeigewahrsam! «

    Ob zu mir oder zu Annie, auf jeden Fall dauerte es länger als eine Viertelstunde. Sie wollte lieber zu mir. Natürlich! Sicher war ihr Soldat inzwischen nach Hause gekommen. Vielleicht liebte sie ihn nicht mehr? Plötzlich schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf.

    Wir rannten zur Metro. Ich habe eine so klare Erinnerung an diesen Lauf. Wir rannten, wir sahen uns an, wir rannten, wir sahen uns an. Und als wir endlich in der Metro saßen, atemlos und mit roten Wangen, wurden wir von einem unbezwingbaren, ganz unpassenden Lachen gepackt, dem Lachen unserer Kindheit, als wir noch »die Unzertrennlichen« waren, wie mein Vater sagte ... wie die Vögel, die man nur als Paar kaufen kann, weil sie sonst sterben.
    Als wir aus der Metro kamen, war es nach Mitternacht. Es waren noch fünfhundert Meter bis zu mir, und wir durften uns nicht erwischen lassen. Annies Holzsohlen machten solchen Lärm, dass sich beim ersten Schritt alle deutschen Patrouillen in Paris auf uns stürzen würden. Ich schlug ihr vor, sie huckepack zu nehmen. Sie wollte nicht, sicher aus Koketterie. Ich bestand darauf.
    »Weißt du, was neulich Abend um 21 Uhr 20 im Luxembourg passiert ist?«
    »Nein.«
    »Ein Jude hat einen deutschen Soldaten getötet, ihm den Bauch aufgeschnitten und sein Herz gegessen.«
    Annie sah mich verblüfft an. »Was erzählst du da für Zeug?«
    »Du weißt genau, dass ein Deutscher kein Herz hat, dass Juden kein Schwein essen und dass um 21 Uhr 20 alle englischen Rundfunk hören! Fass meine Sohlen an.«
    Ich hatte Filzsohlen und war daran gewöhnt, während der Ausgangssperre durch die Stadt zu laufen. Ich würde mitten auf der Straße gehen, um den Soldaten auszuweichen, die auf den Bürgersteigen patrouillierten. So hatte ich sie schon in vielen Nächten überlistet. Wenn ich ihnen zufällig begegnete, blieb ich stehen und wartete, bis sie vorbei
waren. Das Gleiche würden wir tun. Im Dunkeln würden sie nichts sehen. Ich nahm Annie auf den Rücken und spürte, dass sie stolz auf mich war.

Ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen. Der Schreiber dieser Briefe wollte mich offenkundig glauben lassen, dass er von mir sprach!

    Aber wer in aller Welt konnte mir so etwas antun?

    Abgesehen von den Männern, mit denen ich zusammengewesen war, wusste niemand von meinem Muttermal, denn ich habe langes Haar, das ich immer offen trage. Die Kombination Liebhaber und Autor habe ich immer zu vermeiden versucht, schließlich habe ich schon den ganzen Tag Schriftsteller am Hals – und dann auch noch im Bett? Nein danke.
    Nicolas meinte, er habe noch nie ein so schönes Muttermal gesehen, er liebte es sehr. Er hätte besser mich sehr lieben sollen.

    Unser Abendessen war eine wahres Fiasko gewesen. Eigentlich können ja nur sexuelle Beziehungen zu einem Fiasko werden, aber irgendwie traf es der Begriff in diesem Fall. Ich sollte mein Kind »Fiasko« nennen, zur Erinnerung an seinen Vater.
    Nicolas zischte mich wütend an. Er beschuldigte mich, ihm hinterrücks ein Kind angehängt zu haben. Aber damit hätte er eigentlich auch rechnen müssen, meinte er, in meinem Alter hätten die Mädchen nur noch eins im Kopf: ihre biologische Uhr.

    Daraufhin war ich aufgesprungen und hatte ihm erklärt, dass Aschenputtel nach Hause müsse, dass es seinen Schuh nicht verlieren würde und ihn zutiefst verabscheue. So tief, wie er in mich eingedrungen war, um mir dieses Kind zu machen.

    Zwischen Nicolas und diesem letzten Brief lagen ein paar Tage, an denen ich nicht viel aß. Aber ich musste etwas zu mir nehmen, für das Kind. Jetzt fing ich schon an, so zu reden wie die Briefe.
    Im Kühlschrank fand ich zwei Scheiben Schinken, wenigstens etwas. Maman hat immer gesagt, die Depressiven erkenne man daran, dass sie vor dem offenen Kühlschrank äßen. Also setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch,

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