Das geheime Prinzip der Liebe
dass man nicht das geringste Wort verstand.
Falls Annie dennoch versucht hätte, hinauszugehen,
hätte die stets verschlossene Haustür sie daran gehindert. Aber ich habe in meinem tiefsten Inneren immer gewusst, dass sie bleiben würde. Mein bester Verbündeter, um sie zu halten, war Paul, auf den sie wartete.
Wenn ich einen Brief von ihm bekam, verkündete ich es Annie mit boshafter Freude und erzählte ihr kurz, wie es ihm ging. Ihre Augen leuchteten, wenn ich von Paul sprach, ihr Atem ging schneller, sie hing förmlich an meinen Lippen. Wie sie mich dabei anschaute, tat mir weh. Aus Sadismus verschwieg ich ihr manchmal das, worauf sie wartete. Aber einige Stunden später, wenn ich sie so düster, fern und traurig sah, besann ich mich. Ich wollte dem Kind, das sie trug, meinem Kind, diesen Gemütszustand nicht zumuten, deshalb sagte ich: »Übrigens, Annie, ich vergaß dir zu sagen, dass mein Mann dich umarmen lässt.«
Unter jeden Brief schrieb Paul ein Postskriptum: »Grüß Annie von mir!« Dieser kurze Satz, stets der Gleiche, wertete alle Nachrichten ab, die ich von ihm erhielt. Die Entfernung machte ihn mir gegenüber sanfter, auch die Aussicht auf das Kind. Er stellte mir viele Fragen, die ich immer sorgfältig beantwortete – nachdem ich sie Annie gestellt hatte. Seine Briefe waren lang, denn selbst an einer Front, wo nichts passierte, blieb mein Mann Journalist. Aber trotz unserer wiedergefundenen Vertrautheit war dieses unveränderliche Postskriptum, dieses quälende Damoklesschwert, Brief um Brief für mich der Beweis, dass er Annie immer noch im Herzen trug. Und ich sah ihn vor mir, wie er diesen letzten Satz mit besonderer Sorgfalt niederschrieb. »Grüß Annie von mir!«
Im Gegenzug erzählte ich ihm in meinen Briefen kurz, wie es ihr ging.
Ich habe mich oft gefragt, ob sie einander geschrieben
hätten, wenn sie nicht bei mir zu Hause gewesen wäre. Leider bin ich mir nur zu sicher, die Antwort zu kennen.
Und dann kam eines Tages dieses Telegramm, auf das ich nicht gefasst war, ein Telegramm ohne Postskriptum.
endlich stopp ankomme am zweiundzwanzigsten stopp märz stopp sechs tage fronturlaub endlich stopp
Sechs Tage Fronturlaub, das Ende.
In normalen Zeiten hätte Paul »eine Woche« geschrieben, aber in diesen wirren Zeiten war ein Tag ein Tag, und das Ungefähre passte nicht mehr in unsere Denkweise. Gefahr macht präzise. Ich geriet in entsetzliche Panik. »Ankomme am Zweiundzwanzigsten.« Gerade in diesen wirren Zeiten war nichts unverlässlicher als ein Datum, die Zeit war nicht mehr frei, der Krieg, selbst ein »komischer«, bestimmte ihren Rhythmus. Den Rhythmus der Unbeständigkeit. Der unvorhersehbaren Veränderlichkeit.
Es war der 18. März. Seit er mir dieses Telegramm geschrieben hatte, konnten sich die Dinge tausendmal verändert haben. Konnte sein Urlaub vorgezogen worden sein, um irgendeinem Kameraden entgegenzukommen oder weil irgendein Auftrag wartete. Er konnte durchaus heute eintreffen, von einer Minute zur anderen. Oder er hatte das Datum erfunden, um mir eine »schöne Überraschung« zu machen, unverhofft aufzutauchen, von einer Minute zur anderen.
Ich sah ihn schon aus dem Zug steigen. Das Taxi bezahlen. Ich sah ihn schon vor mir stehen, mit einem Lächeln, das bedeutete: »Hier bin ich!« Das geringste Geräusch erschreckte mich, er ist es! Ich befahl Sophie, unser Gepäck für einige Tage vorzubereiten und Proviant mitzunehmen.
Sie fragte, wohin wir fahren würden. Da ich es selbst nicht wusste, antwortete ich trocken, sie brauche es nicht zu wissen. Um Koffer zu packen, sei es genug, dass ich es ihr sagte. Arme Sophie, mich hatte die Gefahr aggressiv gemacht, nicht präzise.
Ich hatte Pauls Fronturlaub nie in Erwägung ziehen wollen. Da mir jeder Tag ohnehin eine Menge von »realen« Problemen bot, mit denen ich fertig werden musste, weigerte ich mich, all die in Betracht zu ziehen, die »eventuell« eintreten konnten. Alles war ohnehin schon so kompliziert, dass ich glauben wollte, dieser Urlaub würde niemals kommen.
Wir reisten in der gleichen Nacht ab. Zur Mühle. Mein Mann konnte die Runde durch all unsere Anwesen machen, er würde keinen Moment daran denken, dass wir dort wären. Der Ort war zu unbequem, zu spartanisch. Annie regte sich nicht auf. Ich hatte ihr den plötzlichen Aufbruch als eine Idee meines Mannes verkauft, um »das Kind an die Luft zu bringen«. Wir würden den Frühlingsanfang auf dem Lande feiern: ein Glück! Annie war weiterhin mit
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