Das geheime Verlangen der Sophie M.
wirrem Blick versuchte er herauszufinden, ob er es als Kompliment oder als Beleidigung nehmen sollte. Als er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, beugte ich mich vor und küsste ihn. Ganz kurz hatte ich freie Hand, doch dann ließ sein Staunen über meinen Schritt nach, und seine Zunge wetteiferte mit meiner. Er schmeckte nach Rotwein und rohem Fleisch, ich musste an seinem Mund lachen, bevor seine Zunge mich wieder in einen Kuss zog. Ein selbstbewusster, heftiger Kuss, seine Lippen fest auf meinen, seine Zunge bearbeitete meinen Mund. Er umfasste meine Handgelenke und drückte mich näher an sich, indem er sie mir auf den Rücken schlang und mich an seinen Körper zwang. Ich hörte, dass ein Taxi kam, und wollte mich lösen, doch er hielt meine Hände fest, sein Mund noch immer auf meinem. Ich stöhnte leicht erregt und leicht bedauernd in seinen Rachen. Als er mich schließlich gehen ließ, blickten wir einander kurz wie vor den Kopf geschlagen und keuchend an, doch bevor er noch etwas sagen konnte, rief ich ihm über die Schulter ein kurzes »Wir sehen uns« zu, sprang in den Wagen und schlug die Tür zu. Ich nannte dem Fahrer die Adresse. Als er losfuhr, winkte ich James lächelnd zu – sein Mund stand offen; wahrscheinlich endeten seine Rendezvous normalerweise nicht damit, dass die Frau so offenkundig die Flucht ergriff. Ich kicherte über seine Miene und streckte ihm die Zunge raus, dabei sah ich noch das breite Lächeln auf seinem Gesicht, bevor er aus meiner Sicht
verschwand. Ich drehte mich wieder um und sah den Blick des Taxifahrers im Rückspiegel.
»Sie hatten wohl einen schönen Abend, was?«
Meine von seinen Küssen geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, den hatte ich.«
Noch auf der Heimfahrt bekam ich eine SMS.
Du kannst froh sein, dass ich nur kurz auf das nächste Taxi warten musste, ansonsten hätte ich dich beim nächsten Mal übers Knie gelegt.
Ich spürte ein Kribbeln – »beim nächsten Mal«. Vielleicht wünschte ich mir nicht als Einzige eine Fortsetzung der Küsse.
Leere Versprechungen …
Ich hielt mit den Fingern über den Tasten inne und überlegte, ob ich auf die Androhung von Prügel direkt antworten sollte. Nach drei Gläsern Wein und noch immer mit seinen Küssen im Mund, schlug ich alle Vorsicht in den Wind:
Ich glaube jedenfalls kaum, dass du so hart zuschlägst, dass es wehtut.
Als ich zu Hause war, kam seine Antwort.
Warum? Bist du viel geschlagen worden?
Ich hielt es für das Sicherste, nicht darauf zu antworten. James war klasse, aber wenn es ihn schon sprachlos machte, dass eine
frustrierte Frau ihn ansprang und küsste, dann würde es ihn wohl traumatisieren, wenn diese Frau dann auch noch ein paar Eigenheiten ihres Sexuallebens preisgab. Zu wissen, dass er zu normal war, als dass tatsächlich etwas Entsprechendes geschehen konnte, war eine Sache – aber das Ganze zu ruinieren, bevor es überhaupt begonnen hatte, war etwas anderes. Ich ging zu Bett. Zuvor aber piepste mein Handy noch mit dem Nachtrag:
Du hast übrigens meinen Mantel geklaut.
Mist!
Jetzt müsste ich ihn also tatsächlich wiedersehen …
Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Mann so emsig per SMS und Mails flirtete, vor allem wenn er so beschäftigt war wie James. Ich hatte zwar keine sehr genaue Vorstellung von der Arbeit eines Brokers, nahm aber an, dass er für seinen finanziellen Ausgleich viel Stress und lange Arbeitszeiten auf sich nehmen musste. Doch zwischendrin – am frühen Morgen, bei der Firmenfeier oder auf einer Geschäftsreise nach Genf und natürlich beim Radfahren (deshalb war er so durchtrainiert) – hatte er ausreichend Zeit, mir über dieses und jenes zu simsen oder zu mailen. Wenn er etwas las, von dem er dachte, dass es mich interessieren könnte, schickte er mir einen Link. Er schickte mir auch ein Bild von einer abfotografierten Speisekarte mit Rechtschreibfehlern, weil er wusste, dass es den Sprachfetischisten in mir aufbringen würde. Er schickte mir auch einen Kommentar zu dem Artikel, den ich über ihn geschrieben hatte. Es machte mich verlegen, ich hatte den Text vor unserem ersten Abendessen abgegeben; obwohl der Ton sehr höflich war, klang es für mich so, als würde da unterschwellig stehen: Dieser Typ ist ein Arschloch. Zum
Glück merkte er es nicht. Oder wenn, war er zu bezaubert von mir, um etwas dazu zu sagen. Wer weiß? In einer Welt von Ja-Sagerinnen fand er mich vielleicht originell.
Ich badete in seiner
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