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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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Meer. Hier sind etwa fünfzehn, zwanzig Gräber. Auf den älteren Grabsteinen sind kleine Engel, deren Gesichtszüge unter Flechten verschwimmen. Sie schlingen die rundlichen Ärmchen um die kleinen Steine, als fühlten sie sich verlassen. Da stehen auch ein paar neuere Steine, auf denen stattdessen Teddybären eingemeißelt sind – weniger himmlische Beschützer, die irgendwie fehl am Platze wirken. Aber genau das ist wohl der Sinn der Sache, nehme ich an. Ein Kleinkind gehört nicht auf einen Friedhof. Ein Leben, das keine Chance hatte, richtig anzufangen, und ein Verlust, der Eltern die Seele im Leib zerrissen haben muss. All diese gebrochenen Herzen sind auch hier begraben, zusammen mit den winzigen Körpern, um derentwillen sie gebrochen sind. Das ist ein melancholischer Anblick, und ich überfliege hastig die Namen und Daten und wende mich dann mit einem Schauer von der traurigen kleinen Gemeinschaft ab.
    Ich habe Friedhöfe noch nie als unheimlich oder besonders deprimierend empfunden. Mir gefallen die Worte der Liebe auf den Grabsteinen, die leisen Zeugnisse dafür, dass Menschen existiert, eine Rolle gespielt haben. Wer weiß, welche geheimen Gefühle hinter den eingravierten Namen von Kindern, Geschwistern oder überlebenden Ehegatten liegen – oder ob ihre Erinnerungen an die Verstorbenen wahrhaftig liebevoll waren. Doch da ist immer die Hoffnung, dass jedes vergängliche Leben jenen, die zurückblie ben, etwas bedeutet hat – dass es eine nebulöse Spur aus Einfluss und Gefühlen hinterlassen hat, die im Lauf der Jahre allmählich verblasst.
    »Und?«, frage ich Eddie.
    »Nichts. Da drüben ist zwar ein Engel, aber die Dame war dreiundsiebzig und hieß Iris Bateman.«
    »Können wir jetzt gehen?«, fragt Beth ungeduldig. »Wenn du so unbedingt wissen willst, ob sie einen Sohn hatte, dann schau doch im Personenstandsbuch nach. Das findet man heute alles im Internet.«
    »Vielleicht war sie schon einmal verheiratet, in Amerika«, sagt Mum und nimmt mich versöhnlich beim Arm. »Vielleicht ist das Baby auf dem Foto dort gestorben, ehe sie hierherkam.«
    Nördlich des Dorfes zieht sich ein Netz aus alten Feld- und Reitwegen durch die tristen winterlichen Felder. Wir schlagen in flottem Tempo einen Rundweg ein und gehen jeweils zu zweit nebeneinander die schmalen Pfade entlang. Eddie lässt sich zurückfallen, um neben mir zu gehen. Er wird nachher abreisen. Ich betrachte sein spitzes Gesicht, sein zerzaustes Haar, und Zuneigung zieht mich fast körperlich zu ihm hin. Das ist ein so seltsames, verzweifeltes Gefühl, dass ich kurz innehalte und mir vorzustellen versuche, wie Beth empfinden muss. Als hätte Eddie meine Gedanken gelesen, beginnt er ein Gespräch.
    »Wird Mum klarkommen?« Er ist eigentlich viel zu jung, um so einen sorgfältig neutralen Tonfall entwickelt zu haben.
    »Ja, natürlich«, antworte ich mit so viel Überzeugung, wie ich aufbringen kann.
    »Ich meine nur … Als Dad mich letztes Mal abgeholt hat, vor Weihnachten, da hatte ich das Gefühl, dass sie … sehr traurig war deswegen. Sie wird wieder so dünn. Und, also, heute, gerade eben, da war sie ziemlich bissig zu dir …«
    »Schwestern blaffen einander oft so an, Eddie. Das ist ganz normal!« Ich ringe mir ein falsches Lachen ab, doch Eddie wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, und ich lasse die hei tere Fassade fallen. »Entschuldige«, sage ich. »Sieh mal, es ist … es ist schwer für deine Mum, wieder hier im Herrenhaus zu sein. Hat sie dir vom Testament deiner Urgroßmutter erzählt? Dass wir das Haus nur behalten dürfen, wenn wir beide darin wohnen?« Er nickte. »Tja, deshalb sind wir hier. Um mal zu sehen, ob wir vielleicht immer hier leben wollen.«
    »Warum kann sie das Haus nicht leiden? Weil euer Cousin entführt wurde – und sie ihn vermisst?«
    »Vielleicht … Möglicherweise hat es etwas mit Henry zu tun. Und damit, dass … na ja, dieser Ort gehört zu unserer Vergangenheit, und manchmal kann es sich falsch anfühlen, wenn man versucht, in der Vergangenheit zu leben. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass wir hierherziehen werden, aber ich will versuchen, deine Mum dazu zu bringen, dass sie wenigstens noch ein bisschen bleibt. Auch, wenn sie eigentlich nicht will.«
    »Aber warum?«
    »Also …« Ich suche nach einem Weg, es ihm möglichst einfach zu erklären. »Erinnerst du dich noch an damals, als dein Finger so dick geschwollen war wie ein Würstchen und so wehgetan hat, dass wir ihn uns nicht einmal

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