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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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mehr, wie lange er da stand, ehe er zu ihr hinüberging, weil er zu viel Angst davor hatte, ihr Haar beiseitezustreichen und zu sehen, was darunter liegt. Seine Mutter, seine tote Mutter. Natürlich hätte er sie gar nicht berühren müssen. Er hätte einfach gleich einen Krankenwagen rufen können. Aber er war noch ein Kind, ein kleiner Junge. Er wollte das selbst wieder gut machen. Er wollte sie berühren und sehen, dass sie schlief, weiter nichts. Welchen Mut er dazu aufgebracht haben muss. Das zu tun – ihr Haar zurückzustreichen. Ich bin so stolz auf ihn, dass es wehtut.
    Sie hatte eine Menge Schlaftabletten genommen und dann versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden – mit dem kurzen Obstmesser. Ich hatte es mehr als einmal in ihrer Hand gesehen, etwa, wenn sie damit eine Banane für Eddies Müsli schnippelte. Doch die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sie gezögert hatte. Sie hatte gezögert, weil der erste Schnitt – tief genug, um richtig übel auszusehen, aber nicht, um wirklich großen Schaden anzurichten – schmerzhafter gewesen war, als sie erwartet hatte. Und während sie zögerte, drang das Schlafmittel in ihre Blutbahn, und sie verlor das Bewusstsein. Sie hatte sich die eine Pulsader außerdem falsch aufgeschnitten. Horizontal, quer über die Adern und Sehnen, anstatt parallel dazu, was, wie jeder ernsthafte Selbstmordkandidat heutzutage wissen sollte, die beste Methode ist. Die Ärzte haben behauptet, das sei eher ein Hilfeschrei als ein echter Suizidversuch gewesen, aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hastete ins Krankenhaus und wartete, während sie ihr den Magen auspumpten. Im Flur, an der Wand gegenüber, war ein Fenster mit geschlossener Jalousie dahinter. Mein Spiegelbild starrte mich an. In dem grünlichen Licht sah ich selbst wie tot aus: schlaffes Haar, langes Gesicht. Ich fütterte eine Maschine mit Geld, und sie spuck te wässrige heiße Schokolade für Eddie aus. Dann kam Maxwell und holte ihn ab.
    Als Beth aufwachte, ging ich zu ihr hinein, und bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht einmal geahnt, dass ich wütend war. Ich war so wütend auf sie. Wütender, als ich je zuvor gewesen war.
    »Was hast du dir dabei gedacht? Was ist mit Eddie?« Das waren meine ersten Worte, schnappend wie eine Falle.
    Eine Krankenschwester, deren Haar die Farbe von Scheu erpulver hatte, sah mich stirnrunzelnd an und sagte: »Elizabeth braucht dringend Ruhe«, in einem mahnenden Tonfall, als würde sie meine Schwester besser kennen als ich. Beth hatte einen Bluterguss am Kinn und violette Schatten unter den Augen und auf den Wangen. Und was ist mit mir? , hätte ich am liebsten hinzugefügt. Ich war verletzt, weil sie mich hatte verlassen wollen. Das gleiche Gefühl wie früher, wenn sie mit Dinny davongerannt war, rollte wie eine Lawine über die vielen Jahre hinweg. Beth antwortete mir nicht. Sie begann zu weinen, und mein Herz bekam einen Sprung, durch den die Wut hinausrann. Ich griff nach einer verfilzten Strähne ihres langen Haars und begann sie mit den Fingerspitzen zu entwirren.
    Es ist lange her, dass ich zuletzt mit meiner Tante Mary gesprochen, geschweige denn sie angerufen habe. Es widerstrebt mir immer noch, aber jetzt habe ich den Stein ins Rollen gebracht. Ich habe angefangen, Dinge in Erfahrung zu bringen, Geheimnisse aufzudecken. Wenn ich weitermache, werde ich früher oder später an die herankommen, nach denen ich suche. Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl hin und her, während ich darauf warte, Marys Stimme zu hören. Sie war immer eine stille Maus, so milde und bescheiden, dass wir sie oft gar nicht bemerkten – eine Frau mit rosiger Haut, hellem Haar und blassen Augen. Ordentliche Blusen, in den Bund ordentlicher Röcke gesteckt. Es war ein Schock, sie schreien zu hören, als sie nach Henrys Verschwinden kreischte, heulte und fluchte. Als sie damit wieder aufhörte, war sie noch stiller als zuvor, als hätte sie allen Lärm, den sie besaß, bei diesem einen Ausbruch aufgebraucht. Ihre Stimme klingt leise und flötend, so wenig belastbar wie ein nasses Taschentuch.
    »Mary Calcott?« So zögerlich, als sei sie nicht ganz sicher.
    »Hallo, Tante Mary, hier ist Erica.«
    »Erica? Oh, hallo, meine Liebe. Frohe Weihnachten. Na ja, dafür ist es wohl schon etwas zu spät. Frohes neues Jahr.« Hinter diesen Worten steckt wenig Überzeugung. Ich frage mich, ob sie uns hasst, weil wir überlebt haben und Henry nicht. Weil wir noch da sind und sie an ihren Verlust

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