Das Geheime Vermächtnis
gestellt und war schon vor über einer Stunde gegangen. Der Tisch war gedeckt, das Essen fertig. Caroline hatte sich die Fingernägel geschrubbt, um die Flecken von den Erbsenschoten loszuwerden. Sie stand am Fenster, und mit jedem Regentropfen wuchs ihre Unruhe.
Als sie endlich glaubte, Reiter herannahen zu sehen, war das letzte Tageslicht schon schwach, sodass sie schwer auszumachen waren. Nur zwei Hüte konnte sie sehen. Nur zwei Reiter, keinen dritten. Ihr Herz begann zu pochen – nicht schnell, aber sehr laut. Es zog sich beständig, langsam und beklemmend zusammen, beinahe schmerzhaft. Nur zwei Hüte; und als sie näher kamen, eindeutig nur zwei Pferde. Und als sie noch näher heran waren, sah sie zwei Pferde mit falbfarbenem Fell – und kein schwarzes.
5
5
… Denn ich wuchs
Im Stadtgewirr, im düsteren Kloster auf
Und sah nichts Liebliches als Stern’ und Himmel.
Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht
Am zweiten Weihnachtsfeiertag wache ich auf und höre Stimmen in der Küche, das Klappern des Wasserkessels auf dem Herd, die rauschende Dusche und Wasser, das in den Rohrleitungen in der Wand hinter meinem Bett gurgelt. All das klingt so sehr wie die Morgen hier, als ich noch klein war, dass ich einen Moment lang still liegen bleibe, mit dem schwindelerregenden Gefühl, durch die Zeit zurückgefallen zu sein. Ich nehme an, dass ich wie früher auch die Letzte bin, die aufsteht. Ich fühlte mich immer noch satt und träge vom üppigen Essen gestern. Im Morgenmantel steige ich hinauf in den Dachboden, hole den beinernen Ring aus Caro lines Reisetruhe und nehme ihn mit hinunter. Über der Treppe hängt der Geruch von Kaffee und gebratenem Speck, und gegen alle Logik knurrt mir der Magen.
Die vier anderen sitzen am Tisch, der ordentlich gedeckt ist, mit Tellern und Besteck, Kaffeebechern und einer riesigen Kaffeekanne, einer Platte Speck mit Rührei und Toast, der ordentlich in einem Ständer steckt. Solche Eigenheiten des Generationsunterschiedes rühren mich immer. Ich käme nie auf die Idee, zum Frühstück den Tisch zu decken und Toast in einem Gestell auf den Tisch zu bringen, statt ihn auf meinen Teller zu legen. Die vier Menschen, die mir auf der Welt am meisten bedeuten, sitzen zusammen an einem vollen Tisch. Ich lehne mich eine Sekunde lang an den Türrahmen und wünsche mir, es könnte immer so sein. Warmer Dampf hängt in der Luft, und die Spülmaschine brummt sich durch ihr lautes Programm.
»Ah! Hast du dich endlich entschlossen, uns mit deiner Anwesenheit zu beehren.« Dad strahlt und schenkt mir Kaffee ein.
»Ich war schon draußen und habe jede Menge Holz hereingeholt«, prahlt Eddie und lässt eine Scheibe Toast unter einer dicken Schicht Nuss-Nougat-Creme verschwinden.
»Angeber«, antworte ich ihm spöttisch.
»Ed, möchtest du etwas Toast zu deiner Nutella?«, fragt Beth spitz. Eddie grinst sie an und nimmt einen Riesenbissen, der ein Schokolächeln auf seinen Wangen hinterlässt.
»Gut geschlafen?«, frage ich meine Eltern. Sie haben dasselbe Gästezimmer genommen wie immer. Es gäbe hier so viele Zimmer zur Auswahl, aber wir alle sind zu unseren angestammten Plätzen gegangen wie brave Kinder.
»Sehr gut, danke, Erica.«
»Hier, Mum – das ist das komische Ding, von dem ich dir erzählt habe. Ich habe es oben bei Carolines Sachen gefunden.« Ich reiche ihr den Ring mit dem Glöckchen. »Der Griff sieht aus wie Bein oder so.«
Sie dreht ihn in den Händen herum und blickt ungläubig zu mir auf. »Das ist kein komisches Ding, du Dummerchen, das ist ein Beißring für ein Baby. Und ein sehr hübscher sogar. Das ist Elfenbein … und das Silberglöckchen wirkt wie eine Rassel. Macht ihn noch interessanter.«
»Ein Beißring? Tatsächlich?«
»Ein sehr altmodischer, ja, aber ganz sicher ein Beißring.«
»Ich habe so etwas erst neulich in der Antiques Roadshow gesehen«, fügt Dad hinzu.
»Elfenbein und Silber – der muss für ein ziemlich reiches Baby gewesen sein«, bemerkt Eddie mit vollem Mund.
»Gehörte er Clifford? Erinnerst du dich daran?«, frage ich. Mum runzelt leicht die Stirn.
»Nein, leider nicht. Aber vielleicht habe ich ihn vergessen. Oder …« Sie greift hinter sich und nimmt den Familienstammbaum von der Anrichte. »Sieh dir mal die Lücke zwi schen Carolines Hochzeit und Merediths Geburt an – sieben Jahre! Das ist recht ungewöhnlich. Da ist deine Großtante Evangeline – sie ist noch vor ihrem ersten Geburtstag verstorben, armes kleines
Weitere Kostenlose Bücher