Das Geheime Vermächtnis
nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht.«
»Nein, aber du kannst es nicht einmal ansatzweise, Erica, weil du nicht weißt, wie sich das anfühlt – du weißt ja gar nicht, wie stark diese Liebe ist«, erklärt sie hitzig.
»Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß«, versichere ich ihr und bin verletzt. In der Stille knackt das Feuer, das heruntergebrannte Holz verrutscht.
»Wir haben Henry nie vermisst«, murmelt sie und lässt sich wieder in den Schatten des Lehnsessels sinken, sodass ich ihr Gesicht nicht mehr deutlich sehen kann. »Wir haben die Suche nach ihm erlebt und gesehen, wie das alles die Familie beinahe auseinandergerissen hätte. In gewisser Weise haben wir die Konsequenzen dessen gesehen, was … passiert ist. Aber wir haben ihn nie vermisst . Wir standen immer nur am Rand der Katastrophe. Des Kummers …«
»Es wäre schwer gewesen, ihn zu vermissen, Beth. Er war abscheulich.«
»Er war abscheulich, aber er war nur ein kleiner Junge. Nur ein kleiner Junge, Erica. Er war noch so jung! Ich verstehe nicht … Es ist mir ein Rätsel, wie Mary das überlebt hat«, sagt sie, und es schnürt ihr hörbar die Kehle zu. Ich glaube nicht, dass Mary es überlebt hat, nicht ganz. Einen grausigen Moment lang stelle ich mir vor, Beth wäre wie Mary. Beth in zwanzig Jahren, ebenso leer und abgestorben wie Mary. Denn so wird es kommen, wenn ich es nicht schaffe, sie zu heilen. Wenn ich mich irre – wenn ich alles nur schlimmer gemacht habe, indem ich mit ihr hergekommen bin. Ich traue meiner Stimme nicht und schweige. In meinen Händen liegt der Brief an Caroline, leicht wie Luft. Er ist so substanzlos, die Worte dieses vergessenen Mannes berühren kaum das Papier, und seine Stimme, die über so viele Jahre hinweg flüstert, verhallt in der Vergangenheit. Ich berühre das C , mit dem er unterschrieben hat, und schicke ihm einen stummen Gedanken zu, zurück in die Vergangenheit, als könnte er ihn irgendwie hören und sich davon trösten lassen.
Es ist spät, und Beth ist schon vor Stunden ins Bett gegangen. Seit dem Weihnachtstag, als ich Dinny zuletzt gesehen habe, sind erst zwei Tage vergangen, und doch sammelt sich eine Art stiller Verzweiflung in meiner Brust. Wenn Beth mir nicht sagen will, was passiert ist, muss Dinny es mir sagen. Er muss es einfach tun. Was bedeutet, dass ich ihn werde fragen müssen, und ich weiß, ich weiß , dass er nicht danach gefragt werden will. Es ist stockdunkel draußen, aber ich habe nicht einmal die Vorhänge zugezogen. Ich sitze gern im Blick der Nacht. Im Fernseher läuft irgendein dämlicher Film, aber ich habe den Ton ganz leise gestellt, starre ins ersterbende Feuer und überlege, überlege. Es ist niemand außer mir da, der dieses wilde Wetter hört, aber es ist tröstlich zu wissen, dass Beth dort oben liegt. Das Haus gibt mir ein Gefühl der Leere. Ohne Beth wäre es unerträglich. Hin und wieder dringt ein Regentropfen bis zur Glut hinab und landet mit einem Zischen. Ein Fetzen Geschenkpapier, jetzt nur noch ein grau verglühtes Gespenst seiner selbst, klebt am Kamingitter. Es neigt sich mit dem Luftstrom hin und her, wenn der Wind in den Schornsteinaufsatz kriecht. Ich bin davon wie hypnotisiert.
Was wäre geschehen, wenn Henry nicht verschwunden wäre? Vielleicht wäre Meredith dann nicht immer widerwärtiger geworden. Mum hätte sich vielleicht nicht mit ihr überworfen, weil Meredith sie schließlich an den Rand ihrer Geduld, den Rand ihrer Versöhnlichkeit getrieben hat. Clifford und Mary wären weiterhin hierhergekommen und auch nicht übergangen worden, als es darum ging, wer das Haus erben soll. Ich weiß, dass Clifford sich furchtbar darüber ärgert, dass ihm das Herrenhaus entgeht. Ein König ohne Schloss. Er kam weiterhin zu Besuch, doch das reichte nicht. Marys Weigerung, auch nur in die Nähe dieses Hauses zu kommen, reizte Meredith genug für sie beide. Will sie nun eine Calcott sein oder nicht, Clifford? Welch eine Feigheit! Henry würde jetzt den Titel »Honourable« Henry Calcott tragen und nur darauf warten, dass Clifford stirbt, weil er sich dann Lord nennen dürfte. Beth und ich hätten noch mehr Sommer hier verbracht. Vielleicht wären wir mit Dinny aufgewachsen. Beth und Dinny, zusammen – verlegene, zaghafte, leidenschaftliche Teenager. Ich schließe die Augen und verbanne diesen Gedanken.
Ich höre ein Klopfen hinter mir, und ein Gesicht am schwarzen Fensterglas lässt mich nach Luft schnappen. Es ist Dinny, und ich starre ihn
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