Das Geheime Vermächtnis
ist. Ich fühle eine zaghafte Hoffnung.
Um halb vier bin ich immer noch der einzige Mensch in diesem quadratischen Warteraum. Hin und wieder gehen Leute auf dem Flur vorbei, und ihre Schuhe quietschen auf dem Boden. Meine Beine sind schwer, weil ich zu lange gesessen habe. Ich versinke in eine Art Dämmerzustand. Vor meinem inneren Auge sehe ich Dinnys Lager an einem Som mertag – Frühsommer, weiße Blüten regnen in einer sanften Brise von den Bäumen, und die metallenen Kühlergrills der geparkten Wohnmobile reflektieren blitzend die Sonne. Grandpa Flag döst in seinem Sessel. Der Wind hebt die rauen Spitzen seines graphitgrauen Haars an, doch ansonsten sitzt er still da. Er saß immer völlig still. Er sprach auch kaum mit uns, aber ich empfand ihn immer als freundlich, sicher. Er hing in seinem Sessel, als schliefe er tief, bis er plötzlich über irgendetwas lachte, das jemand sagte oder tat. Ein schallendes, dröhnendes Lachen. Er trug immer einen zerknautschten Hut tief ins Gesicht gezogen, und in dessen Schatten glänzten dunkle Augen. Wettergegerbte Wangen, tief zerfurcht. Von einem ganzen Leben im Freien hatte seine Haut die Farbe von Haselnüssen angenommen. Die gleiche Farbe wie Dinnys Arme im Sommer. Sie ließen ihn umparken, immer wieder – die Polizei, in den Tagen, nachdem es passiert war. Grandpa Flag beobachtete sie mit seinem ruhigen, durchdringenden Blick. Sie zwangen alle im Lager, ihre Wägen immer wieder wegzufahren, und die dröhnen den Motoren stießen Dieselschwaden in die Luft. Ein Wohnwagen, der einem Mann namens Bernie gehörte, musste angeschoben werden, um ihn von der Stelle zu bekommen. Mickey und die anderen Männer packten an, schoben ihn weg, taten alles, was man ihnen sagte, obwohl der Boden von Bernies Wohnwagen so hoch war, dass man leicht darunterschauen konnte. Ich fragte Mum, wonach die Polizisten suchten. Frische Erde , antwortete sie knapp, und ich verstand nicht, was sie damit meinte.
Eine Gestalt, die an der Tür vorbeigeht, lässt mich wieder wach werden – Dinny, sehr langsam. Ich laufe steif hinaus auf den Flur.
»Dinny – was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«
»Erica? Was machst du denn noch hier?« Er wirkt leicht benommen, völlig erschöpft und erstaunt, mich zu sehen.
»Na ja, ich … ich habe gewartet, weil ich hören wollte, ob alles gutgegangen ist. Und weil du vielleicht jemanden brauchen würdest, der dich zurückfährt.«
»Ich dachte, du wärst längst weg – du hättest doch nicht so lange zu warten brauchen! Ich kann mit dem Bus fahren …«
»Es ist halb vier morgens.«
»Dann eben mit dem Taxi«, beharrt er stur.
»Dinny – würdest du mir jetzt bitte sagen, wie es Honey geht? Und dem Baby?«
»Gut, es geht ihr gut.« Er lächelt. »Das Baby lag falsch herum, aber sie hat es schließlich doch noch geschafft. Es ist ein kleines Mädchen, und es geht ihm gut.« Seine Stimme ist heiser, er klingt erschöpft.
»Wunderbar! Ich gratuliere, Onkel Dinny«, sage ich.
»Danke.« Er grinst ein wenig verlegen.
»Und wie lange müssen sie hierbleiben?«
»Ein paar Tage. Honey hat ziemlich viel Blut verloren, und das Baby hat eine leichte Gelbsucht. Jetzt schlafen sie beide tief und fest.«
»Du siehst völlig fertig aus. Soll ich dich gleich nach Hause fahren?«, biete ich ihm an. Dinny reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen.
»Ja, bitte«, antwortet er nickend.
Der Regen hat nicht nachgelassen. Ich fahre diesmal vorsichtiger und langsamer. Die Landschaft ist so schwarz und leer. Es kommt mir vor, als würden wir einen Tunnel hin durchschneiden, die beiden einzigen Menschen auf der Welt. Ich bin ganz benommen vor Müdigkeit, aber bin gleichzeitig zu müde, um zu schlafen. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um mich aufs Fahren zu konzentrieren. Ich lasse das Fenster ein Stück herunter. Kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, und kleine Regenspritzer. Das Tosen des Fahrtwinds erfüllt den Wagen und verschleiert das Schweigen zwischen uns.
»Du hast nie erwähnt, dass Honey deine Schwester ist. Das wusste ich nicht«, sage ich, nicht so leichthin, wie ich eigentlich wollte.
»Was dachtest du denn, wer sie ist?«
»Na ja … ich dachte, sie sei … Ich weiß auch nicht …«
»Du dachtest, sie sei meine Freundin?«, fragt er ungläubig und bricht dann in Lachen aus. »Ich bitte dich, Erica – sie ist fünfzehn Jahre alt!«
»Aber das wusste ich doch nicht!«, verteidige ich mich. »Was sollte ich denn sonst denken? Als ich dich
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