Das Geheime Vermächtnis
Gesicht, als das Blut in meine steifen Beine strömt. Am Kopf der Treppe bleibe ich stehen, als ich Beth die Tür öffnen höre und dann Dinnys Stimme vernehme. Mein erster Impuls ist, die Treppe hinunterzurennen, um ihn zu sehen und den beiden die Situation leichter zu machen. Aber meine Füße gehorchen mir nicht. So bleibe ich still stehen, die Hand auf dem Treppengeländer, und lausche.
»Wie geht es dir, Beth?«, fragt Dinny, und die Frage hat mehr Gewicht, als normalerweise in den Worten liegt. Mehr Bedeutung.
»Mir geht es sehr gut, danke«, antwortet Beth mit einem seltsamen Unterton, den ich nicht bestimmen kann.
»Es ist nur … Erica hat gesagt, dass du …«
»Erica hat gesagt, dass ich was?«, fragt sie scharf.
»Dass du nicht gern wieder hier bist. Dass du weg wolltest.« Beths Antwort darauf höre ich nicht. Sofern sie denn geantwortet hat. »Darf ich reinkommen?«, fragt er beinahe nervös.
»Nein. Ich … ich denke, besser nicht. Ich … habe zu tun«, lügt Beth, und von der Anspannung, die ich darin spüre, tun meine eigenen Schultern weh.
»Oh. Na ja, eigentlich wollte ich mich nur bei Erica für die Babysachen bedanken, die sie Honey gebracht hat. Honey hat sogar gelächelt, als ich nach Hause gekommen bin – es war erstaunlich.« Ich freue mich, als ich das höre, aber ich weiß nicht, ob Beth klar ist, wie selten Honey zu lächeln scheint.
»Ach so … Ich richte es ihr aus. Oder soll ich sie herunterholen?«, fragt Beth steif.
»Nein, nein. Schon gut«, sagt Dinny, und meine Freude erlischt. Eine Pause entsteht. Ich spüre einen Luftzug von der offenen Tür her, der zu mir heraufflüstert. »Hör mal, Beth, ich würde gern mit dir darüber reden … was passiert ist. Da gibt es ein paar Dinge, die du nicht weißt, glaube ich …«
»Nein!«, unterbricht Beth ihn, und ihre Stimme klingt jetzt schrill und erschrocken. »Ich will nicht darüber reden. Da gibt es nichts zu reden. Das ist längst Vergangenheit.«
»Wirklich?«, fragt er sanft, und ich halte den Atem an, während ich auf Beths Antwort warte.
»Ja! Was meinst du damit? Natürlich ist es lange vorbei.«
»Ich meine, manche Dinge kann man nur schwer hinter sich lassen. Sie sind schwer zu vergessen. Für mich ist das jedenfalls so.«
»Du musst dir nur genug Mühe geben«, sagt sie tonlos. »Dich mehr anstrengen.«
Ich kann die Bewegung von Füßen auf dem Fliesenboden hören und sehe Beth vor mir, die sich windet und zu fliehen versucht.
»Aber so einfach ist das nicht, oder, Beth?«, fragt er, und seine Stimme wird jetzt kräftiger. »Wir waren doch … wir konnten früher über alles reden, du und ich.«
»Das war vor langer Zeit«, erwidert sie.
»Weißt du, du kannst nicht alles selbst bestimmen, Beth. Du kannst nicht einfach so tun, als sei nichts passiert. Du kannst das nicht verleugnen und wegschieben – und mich auch nicht.«
» Ich will nicht darüber reden .« Sie betont jedes Wort mit nachdrücklicher Härte.
»Vielleicht bleibt dir gar keine andere Wahl. Es gibt da etwas, das du erfahren musst«, entgegnet Dinny ebenso bestimmt.
»Bitte«, sagt Beth. Ihre Stimme ist wie zusammengeschrumpft, sie klingt jetzt kleinlaut und ängstlich. »Bitte nicht.«
Eine lange, leere Pause entsteht. Ich wage kaum zu atmen.
»Es ist schön, dich wiederzusehen, Beth«, sagt Dinny schließlich, und auch das klingt nicht wie die dahingesagte Floskel, die es sonst ist. »Ich habe schon fast nicht mehr darauf gehofft. Dich wiederzusehen, meine ich.«
»Wir sollten gar nicht hier sein. Ich wäre auch nicht da, wenn …«
»Und du wirst bald wieder abreisen, nicht wahr?«
»Ja. Bald. Gleich nach Neujahr.«
»Und nie mehr zurückblicken?«, fragt er mit einem Hauch von Bitterkeit.
»Nein«, antwortet Beth, doch das Wort klingt nicht so bestimmt, wie es sollte. Ich friere in der kalten Luft und gerate wieder in Verzweiflung, weil ich wissen will, was sie wissen, weil ich mich erinnern will.
»Dann gehe ich jetzt.« Dinny klingt geschlagen. »Sag Erica vielen Dank von mir. Ich hoffe … ich hoffe, wir sehen uns wieder, Beth. Bevor du verschwindest.« Ich höre Beths Antwort nicht, nur die Tür, die ins Schloss fällt, und ein plötzliches lautes Seufzen, als strömten tausend ungesagte Worte auf einmal aus ihr hervor.
Ich bleibe noch eine Weile auf der Treppe und höre Beth ins Arbeitszimmer gehen. Mit einem knarzenden Geräusch wird die Luft aus einem Sessel gepresst, als sie sich abrupt hinsetzt, dann höre ich nichts
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