Das Geheime Vermächtnis
weiter. Honey hat heute Nacht ihr Baby bekommen – ich musste sie nach Devizes fahren, und wir sind alle klatschnass und furchtbar schmutzig geworden, und … als wir nach Hause gekommen sind, habe ich ihm angeboten, hier zu duschen«, stoße ich hastig hervor.
»Du warst in Devizes ? Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«
»Du hast geschlafen! Und ich musste sofort los – Honey ging es gar nicht gut, und … und wir mussten uns sehr beeilen, das ist alles.« Ich trete mit einem Fuß auf den anderen und weiche ihrem Blick aus. Dann grinse ich sie an. »Stell dir mal vor, wie Meredith an die Decke gehen würde – wenn sie wüsste, dass ein Dinsdale unter ihrer Dusche steht!«, flüstere ich, doch Beth lächelt nicht einmal.
»Dinny ist in der Dusche, und du wartest vor dem Zimmer wie … ich weiß nicht, was«, sagt sie.
»Ich habe nicht vor dem Zimmer gewartet! Ich wollte ihm gerade ein frisches T -Shirt holen …«
»Erica, was tust du da?«, fragt sie mich ernst.
»Nichts! Ich tue gar nichts«, sage ich, und obwohl das die Wahrheit ist, klingt es nicht danach. »Willst du damit sagen, ich hätte ihn nicht hereinbitten sollen?«
»Das wäre vielleicht besser gewesen«, antwortet sie knapp.
»Und warum nicht?«
»Es ist … er ist praktisch ein Fremder, Erica! Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht irgendwelche Leute ins Haus lassen!«
»Nicht irgendwelche Leute. Dinny «, erwidere ich bestimmt. Ich sehe ihr in die Augen und erkenne, dass ich diese Auseinandersetzung gewonnen habe. Sie kann mir nicht erklären, warum sie etwas dagegen hat, ohne zugleich auch andere Dinge zu erklären. Also sagt sie nichts mehr, sondern dreht sich langsam um und schließt die Tür.
Ich eile in mein Zimmer, hole eines der übergroßen T -Shirts, die ich anstelle von Nachthemden trage, aus meinem Koffer und lege es vor Merediths Zimmer. Dampf quillt aus dem Spalt unter der Tür und der Mineraliengeruch von heißem Wasser. Ich laufe hastig die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer und leere meinen restlichen Cognac mit einem Schluck.
Als ich Dinny die Treppe herunterkommen höre, gehe ich hinaus. Die Eingangshalle ist voller Schatten. Er bleibt stehen, als er mich sieht.
»Erica! Du hast mich erschreckt«, sagt er müde. Er hebt die Hand und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Wasser tropft von den Spitzen auf die Schultern meines Rolling-Stones- T -Shirts.
»So viel zu trockenen Klamotten«, bemerke ich.
»Trocken er jedenfalls. Aber ich bin sowieso gleich wieder nass, wenn ich rausgehe, trotzdem vielen Dank. Ich muss zugeben, das ist eine wirklich fantastische Dusche.«
Ich bringe keine Antwort heraus, bekomme nicht einmal mehr richtig Luft. Es fühlt sich an, als hätte ich vergessen, wie das geht, als würde auf das Einatmen irgendwie nicht mehr automatisch das Ausatmen folgen, als wäre mir die selbstverständliche Logik verloren gegangen. Dinny erreicht den Fuß der Treppe, kommt an meiner Seite an, und ich habe das Gefühl, dass ich zu nah neben ihm stehe. Aber er rührt sich nicht, und ich mich auch nicht. Er neigt den Kopf zur Seite und sieht mich verwundert an. Das ist derselbe Blick wie vor Ewigkeiten, als ich ihm erzählt habe, ich hätte in einer Senke zwischen den Hügeln Trolle gesehen. Plötzlich überfallen mich die Erinnerungen an ihn: Wie er mir das Tauchen beigebracht und über meine zahllosen vergeblichen Versuche gewacht hat; wie er mir gezeigt hat, dass man Nektar aus den weißen Blüten der Taubnesseln saugen kann – er hat eine gepflückt und sie mir überreicht. Langsam verändert sich sein Gesichtsausdruck, er wird ernster. Ich könnte mich unter seinem forschenden Blick auflösen, bringe aber nicht fertig, was ich wohl besser tun sollte – mich abwenden oder ein paar Schritte weggehen. Ich sehe zu, wie ein Wassertropfen an seinem Arm hinabrinnt und einen Pfad aus leichter Gänsehaut hinterlässt. Meine Hand bewegt sich wie von selbst.
Ich berühre die Stelle, wo der Tropfen innehält, fahre mit den Fingern Dinnys Unterarm hinauf und verwische die kalte Spur. Die klar geformten Muskeln über seinen Knochen. Das warme Blut unter seiner Haut. Meine Haut brennt, wo sie ihn berührt, aber ich lasse die Hand auf seinem Arm liegen; ich bin wie angewurzelt und kann mich nicht rühren. Eine Sekunde lang hält auch er ganz still, so still wie ich, als hätte ich uns beide mit dieser ungebetenen Berührung versteinert. Die riesige Eingangshalle, an deren Decke sich jedes Echo zerstreut,
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