Das Geheime Vermächtnis
Jeans. Ich presse die Knie gegen die Brust. Hast du dir in die Hose gepinkelt, Erica? Henry lacht, Henry grinst sein hässliches Grinsen. Henry beugt sich vor und blickt sich um. Was hat er gemacht? Wonach hat er gesucht? Was habe ich gemacht? Ich bin wieder ins Wasser gegangen. Da bin ich ganz sicher. Das war ein Ablenkungsmanöver – ich wollte die Anspannung lösen. Ich habe mich umgedreht, Anlauf genommen und bin mit einem möglichst gewaltigen Platschen hineingesprungen. Dann musste ich noch ein wenig unter Wasser herumzappeln, weil meine Unterhose sich zu verabschieden drohte. Und als ich wieder aufgetaucht bin … mir das Wasser aus den Augen gerieben habe … hatte Henry da gefunden, wonach er suchte?
Ehe ich merke, was ich tue, bin ich drin. Ich habe mich gründlich in die Vergangenheit versetzt. Ich nehme Anlauf und springe mit einem möglichst gewaltigen Platschen in den Teich. Und dann strömt die Wirklichkeit von überall her auf mich ein, und meine Haut brennt, so kalt ist das Wasser. Der Schmerz ist unbeschreiblich. Ich weiß nicht, wo oben ist, wohin ich mich wenden, was ich tun soll. Ich habe keine Kontrolle über meinen Körper, der zuckt und zappelt. Die Luft ist aus meiner Lunge gewichen, sie ist in sich zusammengefallen, meine Rippen werden zerdrückt. Ich werde sterben, denke ich. Ich sinke wie ein Stein. Endlich werde ich den Grund des Teichs erreichen, was mir trotz aller Bemühungen nie zuvor gelungen ist. Das Wasser hat keine Oberfläche, es gibt keinen Himmel mehr. Und ich sehe Henry. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich sehe Henry. Ich sehe ihn tatsächlich, er blickt vom Ufer her auf mich herab, mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen. Ich sehe ihn schwanken, sehe Blut, das ihm in die Augen läuft. So viel Blut. Ich sehe ihn umkippen. Dann bin ich wieder an der Luft, und sie ist eine Wohltat – so warm, so voller Leben nach den eisigen Messerstichen des Wassers. Als die Luft in meine Lunge schießt, schreie ich auf vor Schmerz.
Ich kann das Ufer sehen. Es schaukelt und verschwimmt vor meinen Augen, als mein Körper wieder unterzugehen droht. Ich versuche, meine Arme zu beherrschen, mit den Beinen Wasser zu treten. Nichts will sich so bewegen, wie es sollte. Mein Herz schlägt jetzt wie wild, zu schnell, und es ist viel zu groß für meine Brust. Es versucht, mir und dieser kräftezehrenden Kälte zu entkommen. Ich kann die Luft nicht dazu bringen, in meiner Lunge zu bleiben. Sie entweicht pfeifend, als das Wasser mich wieder zusammenquetscht. Es fühlt sich an, als würde ich bei lebendigem Leib gehäutet. Ich brenne. Eine Hand platscht auf das Ufer, aber ich kann es nicht an meiner Haut fühlen, spüre nur den Widerstand. Ich kralle mich fest, grabe die Finger in den Matsch und versuche, auch mit der anderen Hand dorthin zu reichen und mich herauszuziehen. Ich kämpfe. Ich bin eine Ratte in einem Wasserfass, ein Igel in einem Swimmingpool. Ich wimmere.
Dann packen mich zwei Hände unter den Armen und ziehen mich weiter heraus, bis meine Knie festen Boden berühren. Noch ein kräftiger Ruck, und ich bin ganz draußen. Wasser fließt aus meiner Kleidung, aus meinem Haar und meinem Mund. Ich huste und breche in Tränen aus, so glücklich, wieder draußen zu sein, und so voller Schmerzen.
»Was, zum Teufel, machst du da?« Es ist Dinny. Seine Stimme hallt merkwürdig in meinen Ohren wider, und ich kann noch nicht zu ihm aufblicken, kann den schweren Kopf auf meinem hölzernen Nacken nicht bewegen. »Verflucht noch mal, willst du dich umbringen?« Er ist grob und furchtbar wütend.
»Ich … weiß nicht genau«, krächze ich und konzentriere mich wieder aufs Husten. Hinter seinem Kopf wackeln und kreisen die Sterne.
»Steh auf!«, befiehlt er. Er klingt so zornig, und mein letzter Rest Willenskraft versagt. Ich gebe auf. Ich bleibe auf dem Boden liegen und drehe den Kopf von ihm weg. Ich kann meinen Körper, mein Herz nicht mehr spüren.
»Lass mich einfach in Ruhe«, sage ich. Jedenfalls denke ich, dass ich das sage. Ich bin nicht sicher, ob ich Worte ausgesprochen oder nur ausgeatmet habe. Er dreht mich um, stellt sich hinter meinen Kopf, packt mich in den Achselhöhlen und zieht mich hoch.
»Komm schon. Du musst dich erst aufwärmen, ehe du dich hinlegen und ausruhen kannst.«
»Mir ist warm. Kochend heiß«, sage ich, doch dann steigt das Zittern in mir hoch, von den Füßen bis zu den Fingerspitzen zuckt jeder Muskel. Mir dröhnt der Kopf.
»Komm, du musst gehen. Es ist
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