Das Geheime Vermächtnis
das so viel ausgemacht hätte, dann hätte er sie doch sicher gar nicht erst geheiratet?«
»Könnte es nicht sein«, beginnt Patrick, »und das klingt sogar wahrscheinlicher, dass Carolines Baby in Amerika gestorben ist und eines der Dienstmädchen im Herrenhaus sich in Schwierigkeiten gebracht hat – vielleicht Hathaways Mutter? Sie hat in einem Augenblick der Verzweiflung einen Kissen bezug aus dem Haus genommen und ihr uneheliches Kind verschwinden lassen. Es wäre kaum verwunderlich, wenn sie deswegen gelogen hätte oder gefeuert worden wäre.«
»Da hat er recht«, sagt Beth zu mir, aber ich schüttele den Kopf.
»Nein. Ich weiß , dass es das Baby auf dem Foto war. Das muss er gewesen sein«, beharre ich.
»Und was ihre Einstellung gegenüber mir und meinesgleichen angeht«, fährt Patrick achselzuckend fort, »die war damals einfach normal, und ein Produkt ihrer Erziehung. Wir haben selbst heutzutage noch genug mit Vorurteilen zu kämpfen, geschweige denn vor hundert Jahren! Landstreicherei war früher sogar strafbar, weißt du?«
»Also gut, also gut!«, rufe ich. »Ich glaube aber immer noch, dass ich recht habe. Was sagst du dazu, Dinny?«
»Ich bin nicht sicher. Und ich weiß nicht recht, ob ich ein Calcott sein möchte. Die waren im Lauf der Jahre nicht besonders nett zu den Leuten, die mir am Herzen liegen«, sagt er, und sein Blick ist so direkt, dass ich wegschauen muss.
»Na, trink aus, Cousinchen«, sagt Patrick versöhnlich, aber nicht überzeugt. Das Thema wird gewechselt, meine große Parade über den Haufen gefahren.
»Aber die Theorie war gut«, sagt Beth und stupst mich mit dem Ellbogen an.
Kurz vor Mitternacht habe ich ein Rauschen in den Ohren, und wenn ich den Kopf wende, zischt die Welt verschwommen vorbei und braucht einen Moment, um sich an einem Punkt wieder ordentlich niederzulassen. Ich lehne mich an Harry, der kerzengerade sitzt und so viel Cola getrunken hat, dass er alle zwanzig Minuten über mich hinwegklettert, um zur Toilette zu gehen. Alle um mich herum unterhalten sich, und ich bin ein Teil davon, ich werde einbezogen. Ich bin glücklich, betrunken und nur auf diesen Tisch fixiert. Um Mitternacht stellt der Barkeeper das Radio ganz laut, und wir lauschen Big Ben und halten in der Pause vor dem ersten Glockenschlag im neuen Jahr den Atem an. Dann bricht der Pub in Jubel aus, und ich denke an London, daran, dass ich diese Glocken von dort bis hierher hören kann, dass mein altes Leben ohne mich weiterläuft. Ich stelle fest, dass ich es nicht zurückhaben will. Patrick und Beth und ein paar andere umarmen und küssen mich, und dann wende ich mich Dinny zu und halte ihm die Wange hin. Er drückt einen Kuss darauf, den ich noch lange danach spüren kann, sodass ich mich frage, ob er eine unauslöschliche Spur hinterlassen wird.
Bald darauf zupft Beth mich am Arm und sagt, sie wolle gehen. Der Pub leert sich allmählich, nur die betrunkeneren Gäste bleiben zurück, zu denen auch ich gehöre. Ich will noch bleiben. Ich will diese Party am Laufen halten, mich weiter der Illusion hingeben, dass ich zu diesen Leuten gehöre. Beth schüttelt den Kopf und spricht direkt in mein Ohr.
»Ich bin müde. Und ich finde, du solltest jetzt mitgehen, damit wir beide sicher nach Hause kommen. Du hast ziemlich viel getrunken.«
»Mir geht’s gut!«, protestiere ich zu laut, was ihre Worte nur bestätigt.
Beth steht auf, verabschiedet sich von der Runde, zieht ihren Mantel über und reicht mir meinen.
»Wir gehen dann«, sagt sie und lächelt, weicht aber Dinnys Blick aus.
»Ja. Die Party ist so gut wie vorbei«, sagt Patrick gähnend. Seine glänzenden Augen sind gerötet.
»Ihr könnt alle noch mit zu uns kommen, wenn ihr wollt. Wir haben reichlich zu trinken im Haus«, biete ich der ganzen Runde an. Beth wirft mir einen erschrockenen Blick zu, doch niemand nimmt mich beim Wort – alle erklären, es sei schon so spät, sie seien zu betrunken oder hätten jetzt schon Kopfschmerzen. Ich ziehe meinen Mantel über, stelle mich dabei aber so ungeschickt an, dass ich die Ärmel nicht gleich finde. Als ich hinter dem Tisch hervorklettere, stoße ich ihn an, dass die Gläser klirren. Wir wenden uns schon zum Gehen, da hält Dinny Beth am Arm zurück, zieht sie zu sich hinab und flüstert ihr etwas ins Ohr.
»Gute Nacht, Cousine Erica!«, ruft er, als ich davonwanke.
»Und ich habe doch recht!«, beharre ich und stolpere zur Tür hinaus.
»Erica! Warte auf mich!« Beth schreit gegen
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