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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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und mehrere Messer wurden herausgezogen und achtlos daneben liegen gelassen. Zum zweiten Mal in dieser schwarzen Nacht bekomme ich keine Luft. Ich mache kehrt und rase zur Treppe, auf Beinen, die sich nicht schnell genug bewegen wollen.

Überdauern
    1904–1905
    Der Stationsvorsteher in Dodge City war äußerst mitfühlend. Er hörte sich geduldig Carolines Geschich te von der verlorenen Fahrkarte an und erlaubte ihr, gleich an Ort und Stelle für die gesamte Reise zu bezahlen, von Woodward bis New York. Sie verbrachte die tagelange Zugfahrt damit, aus dem Fenster zu schauen, betrachtete grauen Gewitterhimmel, gleißend weißen Himmel und porzellanblauen Himmel, so hübsch, dass ihr davon der Kopf schmerzte. Sie dachte an nichts, stupste aber den Kern aus Trauer in sich immer wieder an, um festzustellen, ob er mit der Entfernung schrumpfen würde, nachdem er das über die Zeit hinweg schon nicht getan hatte. William, der immer noch von seinem Fieber genas, schlief sehr viel und wimmerte verdrießlich, wenn er erwachte. Doch er kannte Caroline und ließ sich von ihr trösten. Sie opferte das Mittagessen im Harvey Hotel in Kansas City, um stattdessen saubere Windeln, Decken und eine Flasche für das Baby zu kaufen. Mit flatterndem Herzen eilte sie zurück zum Bahnhof, voller Angst, der Zug könnte ohne sie abfahren. Dieser Zug war das einzige Zuhause, das sie im Augenblick kannte. Er war ihr einziger Plan, die einzige Gewissheit.
    »Ach, der Kleine ist ja entzückend ! Wie heißt er denn?«, rief eine Frau eines Abends aus. Sie hielt auf ihrem Weg durch den Waggon inne, um sich über das Tragebettchen zu beugen, und schlug die Hände vor der Brust zusammen.
    »William«, antwortete Caroline und schluckte. Ihre Kehle war plötzlich so trocken, dass sie schmerzte.
    »Das ist ein schöner Name. Er hat so dunkles Haar!«
    »O ja, da kommt er ganz nach seinem Vater«, erklärte Caroline lächelnd. Es gelang ihr jedoch nicht, den Kummer aus ihrer Stimme herauszuhalten, und die Frau blickte rasch zu ihr auf und bemerkte ihre rot geränderten Augen und ihr bleiches Gesicht.
    »Es gibt also nur noch Sie und William, nicht wahr?«, fragte die Frau sanft. Caroline nickte und staunte selbst, wie leicht ihr inzwischen Lügen über die Lippen kamen.
    »Ich ziehe mit ihm zu meiner Familie«, sagte sie, und die Frau nickte mitfühlend.
    »Ich heiße Mary Russell. Ich sitze im dritten Waggon, und falls Sie irgendetwas brauchen sollten – und sei es nur ein wenig Gesellschaft –, dann kommen Sie zu meinem Mann Leslie und mir. Einverstanden?«
    »Einverstanden. Vielen Dank.« Caroline atmete unhörbar auf, als Mary sich abwandte, und wünschte, sie könnte das Angebot annehmen, wünschte sich Gesellschaft. Doch das wäre nur in einer anderen Welt möglich gewesen, in einer Welt, in der Corin nicht tot war und sie vielleicht nur auf Besuch zu seiner Familie in New York fuhren. In einer Welt mit einem Baby, das Caroline unter dem Herzen getragen hatte, nicht nur in den Armen. Sie wandte sich wieder ihrer stillen Landschaftsbetrachtung zu, und William schlief ein.
    New York war unvorstellbar laut und gewaltig. Die Gebäude schienen sich aus schwindelnden Höhen herabzunei gen und warfen tiefe, finstere Schatten. Der Lärm glich einer tosenden Brandung, die schäumend in jede Ecke einer jeden Straße brauste. Bleischwer vor Müdigkeit und mit zum Zerreißen gespannten Nerven winkte Caroline eine Droschke herbei und stieg ein. Ihre Kleidung war schmutzig von der Reise und roch muffig.
    »Wohin, Madam?«, fragte der Kutscher. Caroline blinzelte, und die Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Sie hatte die Adressen einiger junger Frauen, die sie einst als Freundinnen bezeichnet hätte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, sie einfach aufzusuchen, nachdem sie zwei Jahre lang kein Wort voneinander gehört hatten, mit einem schwarzäugigen Baby und rußverschmiertem Gesicht. Sie dachte kurz an Corins Familie, doch Wil liam zappelte in ihren Armen, und sie blinzelte gegen ihre Tränen an. Sie hätte ihnen unmöglich einen Enkelsohn schenken können, ohne dass Corin seine Eltern darüber benachrichtigt hätte. Und sie wollte sich nirgendwo aufhalten, wo sie leicht zu finden wäre. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schwall kalten Wassers. Sie konnte nirgendwo hingehen, wo jemand nach ihr suchen könnte.
    »Zu … äh, einem Hotel. Zum Westchester, bitte«, antwortete sie schließlich. Dort hatte sie einmal

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