Das Geheime Vermächtnis
den Wind an, als sie hinter mir aus dem Pub tritt. Aber ich kann irgendwie nicht langsamer laufen. Feuer brennt in meinem Blut, es lenkt meinen Körper, und ich habe keine Kontrolle darüber. »Jetzt warte doch!« Sie läuft los, um mich einzuholen. »Das war ja richtig nett«, sagt sie.
»Hab ich dir doch gesagt«, entgegne ich laut gegen den steifen Wind. Ich kann das Gefühl, das mich treibt, nicht benennen. Es ist eine gewaltige Ungeduld, die unendliche Frustration, nichts mit Sicherheit zu wissen.
»Was hattet du und Dinny denn da zu flüstern?«, frage ich.
»Er, äh …« Sie wirkt verblüfft. »Er hat nur gesagt, dass … ich dich sicher ins Bett bringen soll, mehr nicht.«
»Mehr nicht?«
»Ja, das war alles! Erica, fang nicht damit an – du bist betrunken.«
»So betrunken bin ich auch wieder nicht! Ihr beide hattet immer eure Geheimnisse, und daran hat sich anscheinend nicht viel geändert. Warum will mir keiner von euch erzählen, was damals passiert ist?«
»Ich … ich habe es dir doch schon gesagt: Ich will nicht darüber sprechen, und du solltest es auch sein lassen. Hast du etwa Dinny auch gefragt?« Sie klingt erschrocken, beinahe ängstlich. Ich denke benebelt an unser Gespräch zurück, und mir wird klar, dass ich das nicht getan habe. Nicht direkt.
»Was hat er gerade eben wirklich zu dir gesagt?«
»Ich habe dir doch erzählt, was er gesagt hat! Mein Gott, Erica … bist du etwa eifersüchtig ? Immer noch – nach so langer Zeit?« Ich bleibe stehen und drehe mich um, um sie im letzten Rest Licht, das aus dem Dorf herüberscheint, anzusehen. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass sie es wusste. Dass sie es beide wussten, dass sie bemerkt haben, wie ich um Aufmerksamkeit gebettelt habe. Irgendwie ist das sogar noch schlimmer.
»Ich bin nicht eifersüchtig«, brumme ich und wünsche mir, das entspräche der Wahrheit. Wir gehen weiter und wanken gemeinsam schweigend die Auffahrt entlang. Als wir das Haus erreichen, bemerke ich wieder diese quälende Unruhe in mir. Irgendeine warnende Glocke versucht meinen betrunkenen Nebel zu durchdringen. Ich glaube, es ist Beths Schweigen. Die Qualität dieses Schweigens, seine Breite und Tiefe.
Beth öffnet die Haustür, doch ich weiche vor der Dunkelheit dort drinnen zurück. Im graphitgrauen Mondschein sieht die Tür aus wie ein offenes Grab. Beth tritt ein und schaltet ein blendend gelbes Licht an, und ich wende mich ab.
»Komm schon – die Kälte zieht ins Haus«, sagt sie schließlich.
Ich schüttele den Kopf. »Ich gehe noch eine Runde spazieren.«
»Sei nicht albern. Es ist halb zwei Uhr morgens und eiskalt. Komm rein.«
»Nein. Ich … ich bleibe im Garten. Ich muss einen klaren Kopf bekommen«, erkläre ich tonlos und weiche weiter zurück. Sie ist nur noch ein Umriss in der Tür, gesichtslos und schwarz.
»Dann warte ich, bis du wiederkommst. Bleib nicht zu lange weg.«
»Du brauchst nicht zu warten. Geh ins Bett. Ich komme bald wieder.«
»Erica!«, ruft sie, als ich mich abwende. »Du … du wirst keine Ruhe geben, oder? Du wirst nicht aufhören, darin herumzubohren.« Jetzt schwingt echte Angst in ihrer Stimme. Sie klingt so zerbrechlich wie Glas. Ich bin auch verängstigt, von ihrer Veränderung, ihrer plötzlichen Verletzlichkeit und der Art, wie sie sich am Türrahmen festhält, als könnte sie auseinanderfliegen. Aber ich bleibe hart.
»Nein. Werde ich nicht«, sage ich und gehe.
Ich werde diese Nacht nicht enden lassen, ehe ich irgendetwas gelöst habe. Ehe ich mich an etwas erinnert habe. Ich gehe über den ungepflegten Rasen, meine Beine tragen mich mit schwingenden, elastischen Schritten davon. Unter den Bäumen ist es vollständig dunkel. Ich blicke zum Himmel auf, strecke die Hände vor mir aus, um den Weg zu ertasten, und gehe weiter. Ich weiß, wohin.
Der Teich ist nichts als ein tiefes Schwarz vor meinen Füßen. Der Geruch des Wassers nach Stein und Matsch steigt mir zur Begrüßung entgegen. Der Himmel hängt reglos über mir, und es erscheint mir unwirklich, dass die Sterne sich nicht bewegen, nicht vom Wind davongeweht werden. Hier sitze ich mitten im Winter, mitten in der Nacht, eine Frau mit dem Kopf voller Whiskynebel, die versucht, durch die Zeit zurückzugehen und wieder zu einm fantasievollen Kind unter einem heißen Sommerhimmel zu werden. Ich starre auf das Wasser, versetze mich dorthin. Mein Atem verlangsamt sich, und zum ersten Mal spüre ich die Kälte und den Druck des Bodens durch meine
Weitere Kostenlose Bücher