Das Geheime Vermächtnis
mit Bathilda zu Mittag gegessen. Der Kutscher schnalzte mit den Zügeln, und das Pferd setzte sich in Bewegung, wobei es nur knapp ein Automobil verfehlte, das zwar anhielt, um sie vorbeizulassen, dabei aber ungeduldig hupte.
Bathilda. Caroline hatte gar nicht an sie gedacht, war jedem Gedanken an sie monatelang absichtlich ausgewichen. Sie wusste, was ihre Tante von ihren Ängsten halten würde, und von dem Desaster, zu dem ihr Leben draußen in Woodward County geworden war. Jetzt schloss Caroline die Augen, und sofort sah sie Bathildas wissenden Blick vor sich, ihre vernichtend gekräuselten Lippen. Sie konnte sich vorstellen, wie Bathilda sich Carolines Notlage anhörte und mit einem vielsagenden, scheinheiligen Nun ja … reagierte. Caroline wäre nicht zu ihr gegangen, selbst wenn ihre Tante in New York geblieben wäre, sagte sie sich trotzig. Sie wäre nicht einmal jetzt zu Bathilda gegangen, da sie niemanden hier kannte und nicht wusste, wohin sie gehen, was sie tun sollte. Sie unterdrückte die verräterische Sehnsucht, einfach nur ein vertrautes Gesicht zu sehen, selbst wenn es kein freundliches wäre. Denn wer würde sie jetzt noch mit freundlichem Gesicht empfangen? Sie dachte an Magpie, die in der Erdhütte wartete – aber nur eine Sekunde lang. Der Gedanke war zu schrecklich. Sie dachte an Hutch und daran, welche Gefühle sich auf seinem Gesicht spiegeln würden, wenn er von der Prärie zurückkehrte und erfuhr, dass White Cloud tot war, und vielleicht noch einige andere, und dass sie mit William ohne ein Wort verschwunden war. Ihre Eingeweide schienen sie verbrennen zu wollen, sich zu winden, und Schmerzen stachen plötzlich hinter ihren Augen. Mit einem leisen Aufschrei barg sie das Gesicht in den Händen und konzentrierte sich darauf, sich auf der gepolsterten Bank der Droschke aufrecht zu halten.
Im Westchester bezahlte sie ein anständiges Zimmer und erkundigte sich nach einem Kindermädchen für William. Sie erklärte, ihr eigenes Kindermädchen sei ernsthaft erkrankt und daher gezwungen gewesen, zu ihrer eigenen Familie zurückzukehren, damit man sich um sie kümmern konnte. Unverzüglich fand das Hotel ein Mädchen für sie. Luella hatte ein Mopsgesicht und hellrotes Haar, und sie wirkte verängstigt, als Caroline ihr William reichte. William warf einen einzigen Blick auf die angsterfüllten Augen und das grellrote Haar des fremden Mädchens und begann zu schreien. Luella hielt das Kind ungeschickt von sich weg und verließ mit ihm das Zimmer. Caroline ging ins Badezimmer und erkannte mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor, welch ein Segen fließendes Wasser und Innentoiletten waren. Sie ließ sich ein heißes Bad ein, sank hinein und versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen, die vor all den unbeantworteten Fragen und Ängsten flatterten und drohten, sie jeden Augenblick in Panik zu versetzen.
Schließlich blieb sie nicht länger als eine Woche in der Stadt, in der sie zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Sie fühlte sich hier nicht mehr heimisch, so wenig zu Hause wie auf der Ranch, in Woodward oder in dem Eisenbahnwaggon, der sie zurückgebracht hatte. Die öligen Abgase der Automobile, die sich während ihrer Abwesenheit vervielfacht hatten, kratzten ihr in der Kehle, und im Gedränge der vielen Menschen fühlte sie sich ebenso unsichtbar wie draußen auf der Prärie. Die Gebäude waren zu dicht, zu mächtig, wie ein mit Felsklippen begrenztes Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Ich gehöre nirgendwohin, dachte Caroline, während sie William in seinem neuen Kinderwagen Straßen entlangschob, die sie nie zuvor gesehen, von denen sie noch nicht einmal gehört hatte. Auf diese Weise hoffte sie, das Risiko zu minimieren, dass irgendjemand sie erkennen könnte. An einer Ecke blieb sie stehen und schaute hinauf, wo hoch über ihr ein Kran einen Stahlträger durch die Luft schwang, der wie ein Zahnstocher wirkte. Die Arbeiter, die ihn in Empfang nahmen, standen am Rand des unvollendeten Turms, einzig und allein von ihrem eigenen Gleichgewichtssinn gesichert. Caroline spürte ein mitfühlendes Zwicken im Magen – um der Gefahr willen, in der sie sich befanden, des ständig drohenden Sturzes. Doch schon bald ging sie weiter, denn sie erkannte das Gefühl als eines, das ihr selbst nur allzu vertraut war. Das schleichende Wissen um die Unsicherheit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.
Als Caroline an einem Fotoatelier vorüberkam, auf dessen hübschem vergoldetem Schild Gilbert
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