Das Geheime Vermächtnis
großes Passagierschiff sein Horn erklingen, als es anmutig in den Hafen glitt. Der tiefe, laute Ton hallte durch die Straßen und brachte Caroline wieder zu sich, und zu Williams Geschrei. Sie schluckte, streichelte zärtlich seine Wange, gab leise, besänftigende Laute von sich, dann stand sie auf und wandte sich um. Sie blickte gen Süden zum Hafen, dem Schiff, dem Meer. Fünf Stunden später ging sie an Bord eines Ozeandampfers mit Ziel Southampton.
Joe war tatsächlich in New York, jedoch nicht an just diesem Tag. Zwei Tage, nachdem Carolines Schiff ausgelaufen war, trafen sie in der Stadt ein und suchten auf der Stelle Mrs. Massey auf, Corins trauernde Mutter. Sie ignorierten die Blicke, die ihre ländliche Kleidung und Joes indianisches Blut auf sich zogen. Niemand hatte eine Spur von William oder Caroline gefunden, seit sie zuletzt beim Frühstück im Hotel gesehen worden war, an dem Tag, nachdem sie die Ranch verlassen hatte. Der Direktor der Gerlach’s Bank konnte nur bestätigen, dass es seit der Abhebung der Löhne keine Geldbewegungen mehr auf dem Massey’schen Konto gegeben hatte. Jeder Durchreisende, jeder Rancher in der Gegend wurde gebeten, Bescheid zu geben, falls er Caroline oder irgendeine Spur von ihr entdeckte. Und obwohl der Schalterbeamte am Bahnhof schwor, dass keine blonden Damen mit Babys an jenem Tag irgendeine Zugfahrkarte gekauft hatten, oder auch nur in jener Woche, folgte Hutch seiner Eingebung und fuhr mit Joe nach New York. Bei jedem Aufenthalt auf der Strecke erkundigten sie sich vergeblich nach einer Mrs. Massey.
Mrs. Massey senior hatte von ihrer Schwiegertochter natürlich auch nichts gesehen oder gehört, und sie war höchst bekümmert, als sie erfuhr, dass Caroline und ein kleines Kind verschwunden waren. Sie konnte den Männern immerhin Carolines Mädchennamen und frühere Adresse nennen, doch ihre Erkundigungen in der Stadt nach einer Miss Fitzpatrick blieben ebenso ergebnislos. Sie legten den ganzen Weg noch einmal zurück und versuchten es überall mit dem Namen Fitzpatrick statt Massey, schließlich blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als auf die Ranch zurückzukehren. Dort war Magpie in eine Art Trance gefallen. Immer wieder riss sie sich büschelweise Haare aus und fügte sich selbst mit einem Messer lange Schnitte an den Armen zu, aus denen helles Blut rann, das ihr von den Fingerspitzen tropfte. Joe ließ es zu, dass seine Frau auf diese Weise trauerte. Er war teilnahmslos, sein Zorn verraucht, und sein eigenes Herz leer ohne seinen Sohn. Die Männer legten zusammen und bezahlten einen Mann von Pinkerton für einen ganzen Monat, doch diese Zeit reichte dem Detektiv gerade einmal, um demselben Pfad zu folgen wie Joe und Hutch. Als er nach vier Wochen seinen Abschlussbericht lieferte, konnte er nicht einmal sagen, ob Caroline mit William entführt worden oder davongelaufen war. Hutch lag Nacht für Nacht wach, verwirrt und argwöh nisch zugleich. Er fürchtete um Caroline und um die Ranch, die ohne einen Besitzer ebenfalls keine Zukunft mehr hatte.
Mit jeder zurückgelegten Meile graute Caroline noch mehr vor der Ankunft. Sie hatte in Southampton den Zug nach London bestiegen und sich dort ein Hotel gesucht, das sie sich leisten konnte, nachdem das schwindende Bündel Banknoten aus Gerlach’s Bank in Pfund Sterling umgetauscht worden war. William lag schwer in ihren Armen, und ihre Ohren spannten sich bei seinem Geschrei, als wollten sie sich in ihren Kopf zurückziehen, um sich zu schützen. Während der langen Überfahrt war ihr übel gewesen, und heftige Kopfschmerzen hatten sie abgelenkt, denn sie hatte kaum denken können. William hatte oft stundenlang geschrien, scheinbar ohne Pause, und obwohl Caroline sich immer wieder gesagt hatte, dass er ebenso krank sein müsse wie sie, konnte sie die heimliche Überzeugung nicht abschütteln, er wüsste irgendwie, dass er immer weiter von zu Hause fortgebracht wurde, und er schreie aus Wut auf sie, weil sie ihm das antat. Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, sah sie einen Vorwurf in seinem Gesicht. Sie hörte irgendwann auf, ihn beruhigen zu wollen, ihm etwas vorzusingen oder ihn im Arm zu halten. Stattdessen ließ sie ihn in dem Tragebettchen vor sich hin brüllen und blieb selbst im Bett, wo sie sich elend an die Kabinenwand drückte.
Nun stand sie in einer fremden Stadt, so müde, dass sie kaum denken konnte, und der Boden schwankte immer noch unter ihren Füßen. Caroline schob sich das Kind ein wenig höher auf
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