Das Geheime Vermächtnis
die Arme und lehnte es an den glatten marmornen Empfangstresen des Hotels.
»Ich brauche ein Kindermädchen«, erklärte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Mein Kindermädchen ist an irgendeinem Fieber erkrankt.« Der Mann am Empfang, groß und dünn mit makelloser Frisur und Kleidung, sah sie mit gesenktem Kopf herablassend an und zog eine Augenbraue hoch, als er ihren Akzent hörte. Sie wusste, dass sie zerknittert und arg mitgenommen aussah und dass William übel roch, doch all das steigerte noch ihren Ärger auf den Hotelangestellten.
»Selbstverständlich, Madam. Ich werde mich umhören«, sagte er glatt. Caroline nickte und plagte sich die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie badete William in der Porzellanschüssel des Waschtischs und versuchte, die Handtücher nicht mit dem Schmutz zu ruinieren, der ihm am Hinterteil und den Beinen klebte. Er hörte zu weinen auf, als sie ihn badete, gab fröhliche kleine Laute von sich und platschte mit den Füßen ins Wasser. Caroline räusperte sich und summte heiser ein Schlaflied, bis er einnickte. Die Stille, die sein fehlendes Geschrei hinterließ, klingelte ihr in den Ohren, und sie drückte ihn fest an sich. Sie summte immer weiter und vergaß alles außer seiner Wärme, seinem vertrauensvoll erschlafften Gewicht, während er schlief. Es war kein Wasser mehr da, mit dem sie sich selbst hätte waschen können, und sie legte William aufs Bett und lief vergeblich durch die Flure des Hotels auf der Suche nach einem Zimmermädchen. Sie wollte das schmutzige Wasser sofort entfernt haben und sich nach einem heißen Bad erkundigen.
Später klopfte es leise an der Tür, und eine Frau betrat das Zimmer. Sie war rundlich und rosig, mit hellem, krausem Haar und verschmierten Flecken auf dem Kleid. Doch ihre Augen hatten einen warmherzigen, intelligenten Ausdruck, als sie sich als Mrs. Cox vorstellte, und sie leuchteten auf, sobald sie William entdeckte.
»Ist das der Kleine, der ein Kindermädchen braucht?«, fragte sie. Caroline nickte und bedeutete ihr, dass sie näher kommen und ihn vom Bett hochheben könne.
»Wo im Hotel sind Sie untergebracht? Falls ich Sie oder das Kind sehen möchte?«, erkundigte sich Caroline.
»Oh, ich gehöre nicht zum Hotel, Ma’am, obwohl man mich oft ruft, damit ich mich um die Kinder von Gästen kümmere, die plötzlich in eine unerwartete Situation geraten sind, so wie Sie, Ma’am … Ich wohne mit meinen eigenen Kindern und meinem Mann nicht weit von hier in der Roe Street. Mr. Strachen unten am Empfang weiß, wo ich zu finden bin, falls es nötig sein sollte. Wie lange werden Sie ihn in meiner Obhut lassen, Ma’am?«
»Ich … ich weiß es noch nicht genau. Ein paar Tage vielleicht? Oder ein wenig länger … Ich bin nicht sicher.« Caroline zögerte. Mrs. Cox machte ein langes Gesicht, doch als Caroline für mehrere Tage im Voraus bezahlte, lächelte sie wieder und ließ den verblüfft dreinblickenden William fröhlich auf ihrer Hüfte wippen, als sie nicht lang danach mit ihm hinausging. Carolines Herz krampfte sich ein wenig zusammen, als William außer Sicht verschwand, doch dann wurde sie von einer gewaltigen, alles betäubenden Erschöpfung übermannt. Sie legte sich in ihren schmutzigen Kleidern und mit knurrendem Magen ins Bett und schlief auf der Stelle ein.
Am nächsten Tag zog Caroline die saubersten, am wenigsten zerknitterten Sachen an, die sie in ihrem Koffer finden konnte, und reichte einem Taxifahrer das Stück Papier, auf dem Bathilda ihre Adresse in Knightsbridge notiert hatte. Mit der stillen Entschlossenheit eines Menschen, der in Würde zum Schafott geht, ließ sie sich von ihm dorthin fahren. Das Haus, vor dem er hielt, war vier Stockwerke hoch und aus hellgrauem Stein erbaut. Es stand eingezwängt in einer strengen Reihe identischer Häuser mit hübschen, rot lackierten Haustüren. Caroline griff nach der Türglocke. Ihr Arm fühlte sich so schwer und steif an wie das eiserne Treppengeländer, und als ihr Finger sich seinem Ziel näherte, zitterte er vor Anstrengung. Doch sie drückte auf die Klingel und nannte der ältlichen Hausdame ihren Namen, die sie daraufhin in eine düstere Eingangshalle führte.
»Bitte warten Sie hier«, sagte die Hausdame salbungsvoll und ging gemächlich den Flur entlang davon. Caroline stand da wie versteinert. Sie blickte in ihren Kopf und fand keinerlei Gedanken darin. Nichts als eine hallende Leere, hohl wie eine aufgebrochene, weggeworfene Nussschale. Oh, Corin!
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