Das Geheime Vermächtnis
ruft sie und rennt die Treppe herunter. Ihre Augen sind weit aufgerissen, das Gesicht von Angst gezeichnet.
»Beth, ich hatte ja nicht vor, es ihr zu sagen …«, beginnt Dinny und hebt beschwichtigend eine Hand.
»Was? Warum nicht – weil Beth es dir verboten hat?«, fauche ich ihn an.
»Sag es niemandem. Niemals! «, keucht Beth. Ich erkenne ihre Stimme kaum. Ich greife nach ihren Händen und versuche, ihren Blick einzufangen, doch der ist starr auf Dinny gerichtet, und zwischen den beiden geschieht etwas, das ich nicht ertragen kann.
»Beth! Bitte – sieh mich an! Sieh dir an, was dieses Geheimnis dir angetan hat! Bitte, Beth. Es ist höchste Zeit, es loszuwerden. Was auch immer es ist, lass es los. Bitte. Um Eddies willen! Er braucht eine glückliche Mutter – «
»Lass Eddie da raus!«, herrscht sie mich an, die Augen voller Tränen.
»Warum? Das alles hat auch Auswirkungen auf sein Leben, weißt du? Du bist für ihn verantwortlich. Du bist es ihm schuldig, stark zu sein, Beth …«
»Was weißt du denn schon davon, Erica? Was weißt du über Verantwortung? Du hast nicht einmal einen festen Job! Du ziehst alle sechs Monate um! Du lebst wie eine Studentin, seit du von zu Hause ausgezogen bist – du hattest nie auch nur ein Haustier zu versorgen, also erzähl mir nichts über meine Verantwortung!«, brüllt Beth, und ich weiche getroffen zurück.
»Für dich bin ich verantwortlich«, sage ich mit erstickter Stimme.
»Nein. Bist du nicht«, erwidert Beth und hält meinen Blick gefangen.
»Beth«, sagt Dinny. »Ich habe versucht, mit dir zu reden, seit ihr wieder hier seid, und ich weiß, du willst nicht hören, was ich dir zu sagen habe, aber es ist wichtig, und … ich glaube, Erica hat auch ein Recht, es zu erfahren.«
»Sie war dabei , Dinny! Wenn sie sich nicht erinnern kann, braucht sie sich auch nicht zu erinnern. Können wir die Sache jetzt bitte auf sich beruhen lassen? Dinny, ich … ich denke, du solltest jetzt gehen.«
»Beth, vielleicht wäre es besser, wir sagen es ihr einfach. Sie wird es niemandem verraten. Dann wissen es nur wir drei. Ich glaube … ich glaube wirklich, sie hat das Recht, Bescheid zu wissen«, sagt Dinny mit sanfter Stimme. Beth starrt ihn an, und ihr Gesicht ist so furchtbar blass.
»Nein«, flüstert sie. Ihr Blick huscht von mir zu Dinny und wieder zurück.
»Bitte. Sag du mir, wo Henry ist«, bedränge ich Dinny.
Dinny beißt die Zähne zusammen, blickt über die Schulter zurück, sieht wieder mich an. Seine Augen funkeln. Er scheint hin- und hergerissen, unentschlossen. Ich halte den Atem an, und mein Kopf schwirrt protestierend.
»Also schön!«, bellt er und packt mich am Arm. »Wenn du meinst, dass es die einzige Möglichkeit ist, ihr zu helfen. Aber falls du dich geirrt hast, und wenn nachher alles anders ist, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!« Plötzlich ist er wütend, furchtbar wütend auf uns. Seine Finger bohren sich schmerzhaft in meine Haut, er zerrt mich von der Tür weg und reißt sie auf.
»Nein! Dinny – nicht! «, schreit Beth uns nach, als er mich nach draußen zieht.
» Au – hör auf! Was soll denn das? Wo gehen wir hin?« Instinktiv wehre ich mich gegen ihn, versuche, mich gegen den Zug zu stemmen, aber er ist viel stärker als ich.
»Du willst wissen, was mit Henry passiert ist? Ich zeige es dir!« Dinny spuckt die Worte förmlich aus. Furcht packt meine Eingeweide. Ich bin so nah dran, Henry zu finden, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. Welch eine Kraft in ihm, in seinem Griff steckt, und wie unerbittlich seine Miene wirkt.
»Dinny, bitte …«, keuche ich, doch er ignoriert mich.
»Erica! Nein! «, höre ich Beths heiseren Schrei, der uns nachjagt, aber sie folgt ihm nicht. Ich schaue über die Schulter zurück und sehe sie in der Tür stehen. Ihr Mund ist weit aufgerissen und verzerrt, und sie hält sich mit beiden Händen am Türrahmen fest.
Dinny zieht mich über den Rasen, aus dem Garten hinaus unter die Bäume, und ich glaube, er bringt mich zum Teich. Auf einmal bin ich mir absolut sicher, dass ich da nicht hin will. Vor Grauen werden meine Knie schwach, und ich versuche erneut, mich zu befreien.
»Los, komm!«, fährt er mich an und zerrt noch heftiger. Er könnte mir glatt den Arm abreißen. Aber wir gehen nicht zum Teich. Er hat sich nach Westen gewandt. Wir gehen zum Wagenplatz. Ich folge ihm wie ein widerstrebender Schatten, torkelnd und stolpernd. Mein Herz hämmert. Dinny zieht die Tür des ersten
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