Das Geheime Vermächtnis
ich aus dem Teich kletterte, so schnell ich konnte, und sich Steine schmerzhaft in meine Füße bohrten. Ich erinnere mich an Beths Finger, die sich so fest wie Raubvogelklauen um meinen Arm schlossen, und dann rannten wir. Zurück zum Haus, um uns zu verkriechen, uns zu verstecken und stillzuhalten, bis es losging. Oder vielmehr, bis jemand bemerkte, dass etwas passiert war. Wir gingen nicht wieder zurück, da bin ich sicher. Das letzte Mal habe ich Henry gesehen, als er neben dem Teich stand. Er hat geschwankt. Ist er hineingefallen? Bin ich deshalb so hektisch herausgeklettert? Habe ich deshalb allen gesagt, dass er im Teich liege – war das der Grund, warum ich so darauf beharrt habe? Doch da war er nicht, und es war nur noch ein weiterer Mensch dabei. Es gibt nur einen Menschen, der Henry noch bewegt haben kann, ihn anderswo hingebracht haben kann, denn ich weiß, dass er nicht von allein irgendwohin gehen konnte. Henry wurde an irgendeinem so geheimen Ort versteckt, dass ihn in all den Jahren niemand gefunden hat. Aber ich bin jetzt nah dran.
Es könnte sein, dass diese Erinnerung, die ich mit so viel Mühe wiedergewonnen habe, meine Kopfschmerzen verursacht. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu konzentrieren, um die Bilder vor mir zu sehen. Sie spielen sich immer wieder vor meinem inneren Auge ab, ganz von selbst. Henry blutet, Henry stürzt. Es macht mir Sorgen, dass ich heute kein Frühstück wollte. Ich habe das Essen nur angesehen und musste an Henry denken, und ich hätte unmöglich etwas essen können. Undenkbar, mir irgendetwas in den Mund zu stecken, etwas zu genießen, mich satt und zufrieden zu fühlen. Ist es Beth so ergangen, dreiundzwanzig Jahre lang? Bei der Vorstellung wird mir eiskalt. Es fühlt sich an, als wüsste ich, dass da etwas hinter mir ist, mich verfolgt. Dieses Kribbeln im Nacken, eine ständige Ablenkung. Etwas so Finsteres und Hartnäckiges wie der eigene Schatten.
Die Türklingel schreckt mich auf. Dinny steht draußen, ausnahmsweise einmal in einem schweren, groben Leinenmantel, die Hände tief in die Taschen gesteckt. Trotz allem glühen meine Wangen, und ich spüre eine Woge von etwas Undefinierbarem. Erleichterung vielleicht, oder aber Grauen.
»Dinny! Hallo – komm rein«, begrüße ich ihn.
»Hallo, Erica. Ich wollte nur nachsehen, ob es dir gut geht. Nach gestern Nacht«, sagt Dinny, tritt über die Schwelle, bleibt aber auf dem Fußabtreter stehen.
»Komm doch rein – ich kann die Tür nicht schließen, wenn du da herumstehst.«
»Meine Stiefel sind schmutzig.«
»Das ist das geringste unserer Probleme, glaub mir.« Ich winke ab.
»Und, wie geht es dir? Ich habe mir Gedanken gemacht, weil … wenn du viel von diesem Wasser geschluckt hast, könnte dir davon ziemlich schlecht geworden sein«, sagt er. Da ist eine Verlegenheit an ihm, die noch nie vorher da war, eine Art Schüchternheit, die mich rührt.
»Mir geht es gut, ehrlich. Ich meine, ich fühle mich wie der wandelnde Tod, und wahrscheinlich sehe ich auch so aus, aber abgesehen davon fehlt mir nichts.« Ich lächle nervös.
»Du hättest dich umbringen können«, sagt er ernst.
»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid. Das war nicht meine Absicht, bitte glaub mir. Und danke, dass du mich gerettet hast – ich bin dir was schuldig«, sage ich. Bei diesen Worten wirft er mir einen scharfen, forschenden Blick zu. Doch dann wird seine Miene weicher, er streckt die Hand aus und streicht mit kalten Fingerknöcheln sacht über meine Wange. Mir stockt der Atem, und ich erschauere.
»Idiotin«, sagt er leise.
»Danke«, entgegne ich.
Von oben ist ein dumpfer Schlag zu hören. Ich stelle mir einen vollen Koffer vor, der vom Bett gezogen wurde. Dinny lässt rasch die Hand sinken und steckt sie wieder in die Manteltasche.
»Ist das Beth?«, fragt er.
»Entweder Beth oder der Geist der vergangenen Calcotts. Ich nehme an, sie packt. Sie will nicht einen einzigen Tag länger hierbleiben.« Ich zucke hilflos mit den Schultern.
»Dann geht ihr also weg?«
»Ich … ich weiß nicht. Ich will nicht weg. Noch nicht. Vielleicht gar nicht.« Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. Ich glaube wirklich nicht, dass ich allein in diesem Haus wohnen könnte.
»Keine Dinsdales oder Calcotts mehr auf Storton Manor. Das Ende einer Ära«, sagt Dinny, doch es klingt nicht bedauernd.
»Zieht ihr weiter?«, frage ich. Mein Herz macht einen kleinen, protestierenden Satz.
»Früher oder später, ja. Das hier ist im Winter ein
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