Das Geheime Vermächtnis
miserab ler Lagerplatz. Ich war eigentlich nur wegen Honey hier …«
»Hast du nicht gesagt, du hättest Merediths Todesanzeige gesehen?«
»Ja, na ja, das auch. Ich dachte, die Chancen stünden ganz gut, dass du und Beth da sein würdet.« Einen Moment lang schweigen wir. Ich bin mir seiner immer noch zu unsicher, um mich versuchsweise in diese Strömung zu begeben, die uns auseinanderzieht. Vielleicht ergeht es Dinny genauso.
»Ich würde mich gern von Beth verabschieden, ehe ihr verschwindet«, sagt er leise. Ich nicke. Ja, natürlich will er das. »Als ihr letztes Mal verschwunden seid, hatte ich ja keine Gelegenheit dazu«, fügt er hinzu.
»Sie ist oben. Wir haben uns gestritten. Ich weiß nicht, ob sie herunterkommen wird«, erkläre ich ihm. Ich betrachte seine Hände. Kantige Hände mit schmierigen dunklen Flecken und schwarzen Halbmonden unter den Fingernägeln. Ich denke an den Matsch am Teich, daran, wie er mich herausgezogen hat. Ich denke daran, wie er mich im Arm gehalten hat, nur ein Weilchen, während das Feuer herunterbrannte und mein Körper zitterte. Ich denke an seinen Kuss. Daran, wie unbedingt ich ihn hierbehalten will.
»Worüber habt ihr euch denn gestritten?«
»Was glaubst du wohl?«, entgegne ich bitter. »Sie will mir nicht sagen, was damals passiert ist. Aber sie muss sich dem stellen, Dinny – sie muss einfach! Das ist es, was sie so krank macht, ich weiß es genau!« Dinny stößt ein scharfes Seufzen aus und verlagert das Gewicht auf die Fußballen, als wollte er gleich davonlaufen. Er reibt sich genervt die Stirn. »Du warst vor ein paar Tagen hier, um ihr etwas zu sagen, aber du bist nicht dazu gekommen. Du … du kannst es stattdessen mir sagen«, schlage ich vor.
»Erica …«
»Ich will es wissen!«
»Was, wenn dieses Wissen alles ändert? Was, wenn deine große Schwester und ich dieses eine Mal recht haben und es besser für dich ist, dich nicht daran zu erinnern?« Blitzende Augen heften sich an meine.
»Ich will doch, dass es alles verändert! Und was sollte das schon sein? Sie ist meine Schwester. Ich liebe sie, und ich werde sie immer lieben, ganz egal, was sie tut. Oder getan hat«, erkläre ich mit Nachdruck.
»Ich spreche nicht nur von Beth«, sagt er.
»Von wem dann? Von was dann? Sag es mir einfach!«
»Schrei mich nicht an, Erica, ich höre dich gut. Ich rede von … dir und mir.« Seine Stimme wird weicher. Ich schweige zwei Herzschläge lang. »Was meinst du damit?«
»Ich meine … was auch immer das hier ist … was es vielleicht hätte werden können, all das würde sich verändern.« Er wendet sich von mir ab und verschränkt die Arme. »Verstehst du?«, fragt er. Ich beiße mir auf die Unterlippe, meine Augen brennen. Doch dann sehe ich Beth in der Badewanne, wie gestern Nacht: körperlich unversehrt, und doch treibt sie davon. Ich schlucke die heiße kleine Flamme herunter, die Dinny gerade in mir entzündet hat.
»Ja. Aber ich muss es wissen«, flüstere ich. Mir läuft die Nase. Ich fahre mir mit dem Handrücken darüber. Ich warte darauf, dass er etwas sagt, doch er schweigt. Sein Blick huscht vom Boden zur Tür, dann zur Treppe und wieder zurück, ohne sich auf etwas Bestimmtes zu richten. Muskeln an seinem Kiefer stehen hervor und verkrampfen sich immer mehr. »Erzähl es mir doch, Dinny! Beth und ich sind davongelaufen. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich weiß, dass wir weggelaufen sind und dich und Henry am Teich zurückgelassen haben. Danach hat ihn niemand mehr gesehen, und ich will es endlich wissen !« Meine Stimme klingt merkwürdig, viel zu schrill.
»Beth sollte …«, beginnt er.
»Beth will aber nicht. Oh, vielleicht irgendwann, eines Tages. Vielleicht versucht sie aber auch noch einmal, sich umzubringen, und diesmal schafft sie es! Ich muss das aus ihr herausholen!«, schreie ich. Dinny starrt mich schockiert an.
»Sie hat versucht, sich umzubringen ?«, haucht er. »Deswegen?«
»Ja! Weil sie depressiv ist. Nicht einfach nur unglücklich – sie ist krank, Dinny. Und ich will die Ursache dafür wissen. Wenn du es mir nicht sagst, hilfst du ihr nur dabei, so zu bleiben, wie sie jetzt ist – gehetzt, gequält. Sag mir einfach, was du mit seinem Leichnam gemacht hast! Sag mir, wo er ist!«, flehe ich. Mein Blut rauscht durch meinen Körper wie eine Flutwelle und dröhnt mir in den Ohren.
»Erica!« Beths Schrei hallt die Treppe herunter. Dinny und ich fahren zusammen wie schuldbewusste Kinder. » Nicht! «,
Weitere Kostenlose Bücher