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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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Wagens auf, ohne anzuklopfen. Harry blickt erschrocken auf und lächelt, als er uns erkennt. Dinny stößt mich die Stufen hinauf und in den Wagen, wo es nach Chips und Hund und feuchter Kleidung riecht.
    »Was, zum Teufel, soll das?« Meine Stimme klingt gepresst, ich komme nicht zu Atem und habe das Gefühl, jeden Moment zu zerspringen.
    »Du wolltest doch wissen, wo Henry ist.« Dinny hebt den Arm und deutet auf Harry. »Da ist Henry.«
    Ich starre Harry an. Mein Kopf leert sich, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn so anstarre, und als ich wieder spreche, ist meine Kehle trocken.
    »Was?« Das Wort ist ein kraftloses kleines Etwas, das mit dem letzten Rest Luft aus meiner Lunge strömt. Der Boden neigt sich unter meinen Füßen. Die Erde ist von ihrer Achse gekullert und wirbelt mit mir davon, taumelnd und hilflos. Dinny lässt den Arm sinken, schließt die Augen und reibt sie müde mit einer Hand.
    »Das ist Henry«, wiederholt er, und auch diesmal höre ich seine Worte.
    »Aber … aber wie kann das sein? Henry ist tot! Wie könnte das da Henry sein? Nicht Henry . Doch nicht er.«
    »Er ist nicht tot. Er ist nicht gestorben.« Dinny lässt die Hand sinken, und alles Feuer in ihm ist erloschen. Er beobachtet mich, aber ich kann mich nicht rühren. Ich kann nicht klar denken. Harry lächelt unsicher. »Versuch bitte, nicht zu schreien. Das macht ihm Angst«, sagt Dinny ruhig. Ich kann gar nicht schreien. Ich kann überhaupt nichts. Ich kann nicht atmen. In meinem Kopf baut sich ein Druck auf. Ich fürchte, er könnte platzen, also drücke ich mir die Hände an die Schläfen, um meinen Schädel zusammenzuhalten. »Komm mit – gehen wir. Lass uns draußen reden«, murmelt Dinny und nimmt wieder meinen Arm, sanfter jetzt. Ich entwinde mich ihm und beuge mich zu Harry vor. Ich habe schreckliche Angst, als ich ihn mir ansehe. Solche Angst, dass meine Knie nachgeben – mit einem dumpfen Schlag knallen sie auf den Boden. Solche Angst, dass mir entsetzlich übel wird. Mir ist kalt bis in die Haarwurzeln, dabei brenne ich am ganzen Leib. Ich streiche Harry ein paar Dreadlocks aus dem Gesicht und spähe in seine Augen. Ich versuche, es zu sehen, ihn zu erkennen, aber das kann ich nicht. Das will ich nicht.
    »Du irrst dich. Du lügst!«
    »Weder noch. Komm schon, wir können nicht hier darüber reden.« Dinny zieht mich auf die Füße und führt mich wieder nach draußen.
    Zum zweiten Mal binnen zwölf Stunden sitze ich in Dinnys Wagen, zitternd, fassungslos, benommen. Er kocht Kaffee auf dem Ofen, in einer zerbeulten Edelstahlkanne, und die brodelnde Flüssigkeit riecht köstlich. Der erste Schluck aus dem Becher, den er mir reicht, verbrennt meinen Mund, und ich spüre, wie der Kaffee mich belebt.
    »Ich … ich kann es nicht glauben. Ich verstehe es nicht«, sage ich leise. Draußen schlägt eine Tür. Popeye und Blot geben mit geschlossenem Maul ein leises Wuffen von sich – eher eine Begrüßung denn eine Warnung. Dinny hat seinen Fuß auf dem anderen Knie abgelegt, seine vertraute Haltung. Er sieht hart und nervös zugleich aus. Er seufzt.
    »Was verstehst du nicht?«, fragt er ruhig, und das ist eine ehrliche Frage.
    »Na ja, wo war er denn all die Jahre? Warum hat man ihn nie gefunden? Sie haben überall nach ihm gesucht!«
    »Niemand sucht überall .« Dinny schüttelt den Kopf. »Er war hier, bei uns. Bei meiner Familie, oder bei Freunden meiner Familie. Es gibt mehr als ein solches Lager in Südengland. Mum und Dad hatten jede Menge Freunde, bei denen sie ihn unterbringen konnten, Freunde, die sich um ihn gekümmert haben, bis sich der Sturm gelegt hatte. Sobald ich alt genug war, selbst auf ihn aufzupassen, habe ich das übernommen.«
    »Aber … ich habe gesehen, wie er geblutet hat. Ich habe gesehen, dass er in den Teich gefallen ist …«
    »Und dann seid ihr beide weggerannt. Ich habe ihn herausgefischt und meinen Dad geholt. Henry hat nicht mehr geatmet, aber Dad hat es geschafft, ihn wiederzubeleben. Die Wunde an seinem Kopf war nicht so schlimm, wie sie aussah … Kopfverletzungen bluten nur sehr stark.« Er blickt auf seinen Stiefel hinab und zwirbelt das ausgefranste Ende eines Schnürsenkels zwischen Daumen und Zeigefinger.
    »Und dann? Habt ihr ihn denn nicht ins Krankenhaus gebracht? Warum seid ihr nicht zum Herrenhaus gekommen und habt Hilfe geholt?«, frage ich. Die letzten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens schreiben sich vor meinem inneren Auge um, lösen

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