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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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sich auf wie ein Wollknäuel. Ich kann mich kaum konzentrieren. Dinny antwortet lange nicht, dann bohrt sich sein Blick sengend in meinen.
    »Ich … wollte nicht sagen, was passiert war. Ich wollte ihnen nicht sagen, wie er verletzt wurde … oder von wem. Also hat Dad … Dad dachte, ich wäre es gewesen. Er dachte, Henry und ich hätten uns geprügelt oder so. Er wollte mich schützen.«
    »Aber du hättest ihnen doch sagen können, dass es ein Unfall war.«
    »Hör schon auf damit, Erica. Jeder wartet doch nur auf eine Bestätigung, dass er mit seiner Meinung über uns recht hatte – mein ganzes Leben lang wollen die Leute ihre Vorurteile bestätigt sehen. Dass wir Diebe sind, Verbrecher – dass wir Abschaum sind. Das Jugendamt hätte sich die Chance nicht entgehen lassen, mich Mum und Dad wegzunehmen. Ein paar Monate im Jugendknast, dann ein ordentliches Zuhause, bei einer ordentlichen Familie …«
    »Das kannst du doch nicht wissen …«
    »Doch. Doch, das weiß ich. Du bist diejenige, die nichts weiß, Erica.«
    »Warum ist er … so, wie er ist?«
    »Das kommt nicht von der Kopfverletzung, so viel ist sicher. Dad hat ihn zu einer alten Freundin gebracht – Joanna war mal Krankenschwester in Marlborough. Das war noch am selben Nachmittag, bevor überhaupt jemand gemerkt hatte, dass er verschwunden war. Sie hat ihm den Kopf mit ein paar Stichen genäht und gesagt, er hätte vielleicht eine Gehirnerschütterung, aber das sei alles nicht so schlimm. Wir wollten warten, bis er aufwacht, uns vergewissern, dass es ihm gut geht, ihn dann irgendwo in der Nähe des Dorfes laufen lassen und abhauen. Das war der Plan. Joanna hat sich während der ersten paar Tage um ihn gekümmert. Er war zwei Tage lang bewusstlos und … dann ist er aufgewacht.«
    »Da hättet ihr ihn doch zurückbringen können. Oder ihn irgendwo aussetzen, wo man ihn gefunden hätte, wie du gesagt hast. Warum habt ihr das nicht getan?«
    »Weil die Suchaktion inzwischen gewaltig war. Wir standen unter Beobachtung. Wir konnten keinen Schritt tun, ohne dass irgendein Polizist sich eine Notiz darüber gemacht hat. Henry hätte ihnen doch sofort gesagt, dass wir ihn hatten – sobald sie ihn gefunden hätten, meine ich. Aber wir dachten, wir hätten einen kleinen Vorsprung. Als uns klar wurde, dass wir ihn unmöglich zurückbringen konnten, ohne dabei gesehen zu werden, war es schon zu spät. Und als er dann aufgewacht ist, hat etwas mit ihm nicht gestimmt. Das hat man sofort gemerkt. Dad hat mich zu ihm gebracht, weil ich ihn von uns allen am besten kannte. Sag mir nur, was du davon hältst, hat Dad gesagt. Ich glaube, ich habe gar nicht verstanden, was er damit meinte, bis ich Henry gesehen und mit ihm gesprochen habe. Er saß auf Joannas Gästebett und hielt ein Glas Orangensaft in der Hand, als wüss te er nicht, was er damit anfangen sollte. Ich wäre lieber sonstwo auf der Welt gewesen, nur nicht bei ihm in diesem Zimmer.« Dinny fährt sich mit den Fingern durchs Haar, gräbt sie hinein. »Ich habe versucht, mit ihm zu reden, wie Dad gesagt hat. Aber er war nicht mehr derselbe Junge. Er war hellwach, aber … weit weg. Verwirrt.«
    »Aber warum? Du hast doch gesagt, dass seine Kopfverletzung gar nicht so schlimm war?«
    »War sie auch nicht. Es war die Zeit, in der er nicht geatmet hat. Bevor mein Dad kam und ihm wieder Luft in die Lunge geblasen hat.« Dinny klingt jetzt so müde, bleiern. In meinem tiefsten Herzen glüht ein Funken Mitleid auf, aber ich darf mich ihm noch nicht öffnen. Es gibt zu viele andere Sachen zu fühlen.
    Ich trinke meinen Kaffee aus, ehe ich wieder etwas sage. Das Schweigen war mir gar nicht aufgefallen. Dinny beobachtet mich, tippt mit einem nervösen Daumen auf den Fußknöchel und wartet. Wartet auf meine Reaktion, nehme ich an. Er hat ein defensives Funkeln in den Augen.
    »Dieser Sturm hat sich nie gelegt, weißt du? Nicht für seine Eltern. Nicht für meine Familie …«
    »Glaubst du denn, es wäre für mich irgendwann vorbei gewesen? Für meine Familie? Ich musste ihn seither fast jeden Tag sehen und mich fragen, ob es anders gekommen wäre, wenn ich selbst versucht hätte, ihn wiederzubeleben, nur ein kleines bisschen früher … Wenn wir ihn doch ins Krankenhaus gebracht hätten.«
    »Aber ihr habt nie etwas gesagt. Ihr habt ihn behalten.«
    »Nicht behalten . Wir haben uns um ihn gekümmert.«
    »Ihr habt ihn behalten und seine Familie – seine Eltern – glauben lassen, er sei tot! Du hast Beth und mich

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