Das Geheime Vermächtnis
ihre langen, abgeschnittenen Haare. Ohne sie sieht sie wie ein kleines Mädchen aus, so verletzlich. »Deine Haare!«, rufe ich aus, und dann lache ich wieder und küsse ihr Gesicht. Sie hat sich nicht selbst verletzt, sie blutet nicht.
»Ich konnte es nicht tun. Ich wollte ja, aber … Eddie …«
»Du wolltest es nicht tun! Du willst es nicht tun! Ich weiß, dass du es im Grunde nicht wirklich willst«, sage ich zu ihr. Ich ziehe sie noch höher in meine Arme und wiege sie sacht hin und her.
»Doch! Ich wollte es!«, sagt sie zornig, und die Tränen laufen ihr dabei über die Wangen. Sie würde sich von mir losreißen, wenn sie die Kraft dazu hätte. »Warum hast du ihn dazu gezwungen, es dir zu sagen? Warum hörst du nicht auf mich?«
»Weil es sein musste. Wirklich. Aber jetzt hör du mir zu – Beth, hörst du mir zu? Es ist wichtig.« Ich blicke auf und sehe mich im Spiegel auf dem Frisiertisch. Ich sehe grau aus, gespenstisch. Aber ich kann sie in meinen eigenen Augen sehen – die Wahrheit, die nur darauf wartet, hervorzusprudeln. Ich hole tief Luft. »Beth, Henry ist nicht tot. Harry ist Henry! Es ist wirklich wahr! Dinny hat mir die ganze Geschichte erzählt … Henry ist nicht gestorben. Sie haben ihn zu einer Freundin gebracht, die ihn medizinisch versorgt hat, und dann haben sie ihn jahrelang in verschiedenen Lagern versteckt. Deshalb wurde er trotz der vielen Suchaktionen nie gefunden.«
»Was sagst du da?«, flüstert sie. Sie starrt mich an, als wäre ich eine Schlange, als warte sie auf den nächsten Biss.
»Harry – der Harry, mit dem dein Sohn die ganzen Weihnachtsfeiertage über gespielt hat –, Harry ist unser Cousin Henry .« Oh, wie sehr ich sie befreien will, sie heil und ganz machen will! In der Stille höre ich sie atmen. Flatternd wird die Luft aus ihrem Körper gestoßen.
»Das kann nicht sein«, flüstert sie.
»Es ist wahr, Beth. Es ist wirklich wahr. Dinny wollte niemandem sagen, was passiert war, deshalb hat Mickey geglaubt, Dinny wäre schuld daran, und sie wollten nicht, dass das Jugendamt ihn wegholt …«
»Nein, nein, nein ! Nichts davon stimmt! Ich habe ihn getötet! Ich habe ihn umgebracht , Rick.« Ihre Stimme schwillt zu einem Heulen an und verklingt wieder zu einem Wimmern. »Ich habe ihn umgebracht.« Das sagt sie schon ruhiger, als wäre es beinahe eine Erleichterung, die Worte endlich herauszulassen.
»Nein, hast du nicht«, beharre ich.
»Aber … ich habe diesen Stein geworfen … er war zu groß! Ich hätte ihn nie werfen dürfen! Nicht einmal Henry hätte so einen großen Stein geworfen. Aber ich war so wütend! Ich war so wütend, und ich wollte nur, dass er endlich aufhört ! Der Stein ist so hoch geflogen«, flüstert sie.
Jetzt kann ich es sehen. Endlich, endlich. Als wäre es die ganze Zeit über da gewesen. Mädchen wird nicht gezeigt, wie man richtig wirft. Sie legte ihren ganzen Körper, all ihren Schwung in diesen Wurf und ließ den Stein zu früh los, sodass er viel zu hoch flog. Wir verloren ihn vor dem grellen Sommerhimmel aus den Augen. Henry lachte sie schon aus, lachte über ihren ungeschickten Wurf. Er lachte, als der Stein wieder herunterkam und mit einem Geräusch auf seinen Kopf knallte, das sich ganz falsch anhörte. Laut und ganz falsch. Wir alle erkannten sofort, wie falsch dieses Geräusch war, obwohl wir so etwas noch nie zuvor gehört hatten. Es war das Geräusch von aufplatzender Haut, von einem schweren Schlag auf Knochen. Und dann das viele Blut, sein glasiger Blick, meine hektische Kletterei aus dem Teich und unsere Flucht. Jetzt habe ich es. Endlich.
»Ich habe ihn nicht umgebracht?«, flüstert Beth schließlich. Ihr bohrender Blick forscht in meinem Gesicht nach der Wahrheit.
Ich schüttele den Kopf und lächle sie an.
»Nein. Du hast ihn nicht umgebracht.«
Ich sehe, wie sich Erleichterung auf ihrem Gesicht ausbreitet, langsam, ganz langsam, als wagte sie es kaum zu glauben. Ich halte sie fest in den Armen und spüre, wie sie zu weinen beginnt.
Später gehe ich wieder zum Wagenplatz zurück. Es ist früher Nachmittag, und die Sonne brennt sich durch den Nebel. Als die ersten Fetzen Himmel auftauchen – verschleiert und umwerfend schön –, fühle ich, wie etwas in mir aufsteigt, aus mir herausströmt. Zurück bleibt ein neutrales Gefühl, das sich zu allem Möglichen entwickeln könnte. Es könnte zu Freude werden. Vielleicht. Ich setze mich neben Harry auf die Stufen vor seinem Wohnmobil. Ich frage ihn, was er
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