Das Geheime Vermächtnis
Mrs. Priddy, die den Haushalt so gut wie möglich besorgte, mit Estelle als einziger Unterstützung. Mrs. Priddy war gütig zu Meredith, ließ sie Kuchenreste naschen und erlaubte ihr, ein Kaninchen zu halten. Es wohnte in einem Gehege neben der Küchentür, wo Meredith es mit Rüben und löchrigen Salatblättern fütterte. Eine Lehrerin kam ins Haus, um Meredith im Lesen und Schreiben, Musik, Handarbeit und guten Manieren zu unterweisen. Das Mädchen verabscheute sowohl den Unterricht als auch die Lehrerin und floh in den Garten, sobald sie konnte.
Doch Meredith sehnte sich nach ihrer Mutter. Caroline war mittlerweile ein Geschöpf wie aus einer anderen Welt. Stundenlang saß sie in einem weißen Kleid an einem Fenster oder draußen auf dem Rasen und starrte in die Ferne, wo sie Gott weiß was sah. Wenn Meredith sie umarmen wollte, ließ sie es sich einen Moment lang gefallen, ehe sie mit mildem Lächeln die kindlichen Arme von sich schob und Meredith aufforderte, spielen zu gehen. Mrs. Priddy ermahnte sie, ihre Mutter nicht anzustrengen, und Meredith nahm sich diese Anweisung zu Herzen. Sie fürchtete, sie könnte irgendwie für die unüberwindliche Lethargie ihrer Mutter verantwortlich sein. Also hielt sie sich von ihr fern, weil sie dachte, dann wäre ihre Mutter vielleicht nicht mehr so müde und würde wieder aufstehen, lächeln und sie lieb haben. Sie spielte allein und beobachtete die Tauben, die auf den Dächern balzten und sich voreinander verneigten. Sie beobachtete, wie dem Froschlaich im Zierteich langsam Schwänze wuchsen und er sich in lauter winzige Kaulquappen verwandelte. Sie beobachtete die Katzen, die in der Küche unglückselige Mäuse fingen und sie dann mit einem raschen, beiläufigen Knirschen auffraßen. Und sie beobachtete aus dem Schutz des Waldes heraus die Dinsdales auf der Lichtung. Sie beobachtete sie, so oft sie konnte, doch sie war zu schüchtern, um sich ihnen je zu zeigen.
Die Dinsdales hatten drei Kinder: ein kleines Baby, das in einer Schlinge auf dem Rücken seiner Mutter herumgetragen wurde, ein kleines Mädchen mit blondem Haar wie dem ihrer Mutter, das ein paar Jahre älter war als Meredith, und einen Jungen, einen dunklen, seltsam aussehenden Jungen, dessen Alter Meredith nicht erraten konnte. Er folgte seinem Vater überallhin, spielte mit seiner kleinen Schwester und neckte sie grinsend. Die Mutter war hübsch und lächelte immerzu, lachte über die Späße ihrer Kinder und drückte sie fest an sich. Der Vater war ernster, ganz so, wie Väter Merediths Wissen nach zu sein hatten, aber auch er lächelte oft, legte dem Jungen einen Arm um die Schultern oder hob das kleine Mädchen hoch und trug es herum. Meredith konnte sich nicht vorstellen, dass ihr eigener Vater jemals so etwas mit ihr tun würde – allein beim Gedanken daran fühlte sie sich nicht wohl. Also beobachtete Meredith fasziniert diese Familie, und obwohl sie so fröhlich und heiter waren, fühlte sie sich nach diesen heimlichen Besuchen immer weinerlich und düster. Ihr war nicht bewusst, dass sie sie beobachtete, weil sie sie beneidete und sich so sehr danach sehnte, von ihrer eigenen Mutter so in den Arm genommen zu werden.
Eines Tages beging sie einen Fehler. Ihre Mutter saß auf ihrem Korbstuhl im Garten, einen unberührten Krug Limonade neben sich auf dem Tisch. Durstige Fliegen ließen sich ungestört auf dem Abdecktuch aus feiner Spitze nieder. Meredith kam aus dem Wald und erschrak, als sie ihre Mutter dort sah. Hastig strich sie ihre Röcke glatt und steckte sich das Haar hinter die Ohren. Ihre Mutter blickte nicht auf, als sie näher kam, rang sich aber ein schwaches Lächeln ab, als ihre Tochter direkt vor ihr stehen blieb.
»Na, mein Kind, wo warst du heute?«, fragte sie mit einer Stimme, die weich und trocken klang und weither zu kommen schien. Meredith trat zu ihr und nahm schüchtern ihre Hand.
»Ich war im Wald. Auf Forschungsreise«, sagte sie. »Soll ich dir etwas Limonade einschenken?«
»Und was hast du im Wald gefunden?«, fragte ihre Mutter und ignorierte das Angebot.
»Ich habe die Dinsdales gesehen …«, sagte Meredith und schlug sich die Hand vor den Mund. Mrs. Priddy hatte sie ermahnt, die Dinsdales ihrer Mutter gegenüber niemals zu erwähnen, obwohl Meredith nicht verstehen konnte, warum.
»Du hast was?«, fuhr ihre Mutter auf. »Du weißt, dass du das nicht darfst! Ich will hoffen, dass du nicht mit diesen Leuten gesprochen hast?«
»Nein, Mama«, sagte Meredith
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