Das Geheime Vermächtnis
wirklich passiert ist? Um Beth zu schützen?«
Dinny kaut langsam und schluckt.
»Wir waren zwölf , Erica. Aber ich wollte sie nicht verraten, nein.«
»Und liebst du sie noch?« Ich will es nicht wissen, aber ich muss es wissen.
»Sie ist nicht mehr dieselbe Person.« Er senkt stirnrunzelnd den Blick.
»Und ich? Bin ich noch dieselbe?«
»So ziemlich.« Dinny lächelt. »Hartnäckig wie eh und je.«
»Das mache ich nicht mit Absicht«, erkläre ich. »Ich will nur das Richtige tun. Ich will nur … dass alles gut ist.«
»Wolltest du schon immer. Aber das Leben ist nicht so einfach.«
»Nein.«
»Gehst du jetzt zurück nach London?«
»Ich glaube nicht. Nein. Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen soll.« Ich sehe ihn direkt an, als ich das sage, und kann nicht verhindern, dass die Frage aus meinem Blick spricht. Er sieht mich an, fest, aber ohne Antwort.
»Clifford wird Ärger machen«, sage ich schließlich. »Wenn wir es ihnen sagen. Da bin ich ganz sicher. Aber ich weiß nicht, ob ich damit leben könnte, zu wissen, was ich weiß, und ihn und Mary weiterhin in dem Glauben zu lassen, Henry sei tot«, sage ich.
»Sie würden ihn heute gar nicht mehr erkennen, Erica«, sagt Dinny ernst. »Er ist nicht mehr ihr Sohn.«
»Aber natürlich ist er ihr Sohn! Was denn sonst?«
»Er ist jetzt schon so lange bei mir. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Ich habe gesehen, wie ich mich verändert habe … aber Harry ist einfach gleich geblieben. Als wäre für ihn die Zeit stehen geblieben, an dem Tag, als der Stein ihn getroffen hat. Wenn er überhaupt zu jemandem gehört, dann ist er mein Bruder. Er ist jetzt ein Teil meiner Familie.«
»Wir sind alle eine Familie, schon vergessen? Gleich mehrfach, wie mir scheint. Sie könnten dir helfen, sich um ihn zu kümmern … oder ich könnte das tun. Ihn mit unterstützen … finanziell, oder … Er ist ihr Sohn , Dinny. Und er ist nicht gestorben!«
»Doch, das ist er. Ihr Sohn ist gestorben. Harry ist nicht Henry. Sie würden ihn aus allem herausreißen, was er kennt.«
»Sie haben ein Recht, über ihn Bescheid zu wissen.« Ich schüttele den Kopf. Wieder einmal kann ich keine Ruhe geben.
»Also, wie stellst du dir das vor – soll Harry bei ihnen wohnen, eingesperrt in ein konventionelles Leben, oder in irgendeiner Einrichtung, wo sie ihn besuchen können, wann immer es ihnen passt und er die restliche Zeit über vor dem Fernseher abgestellt wird?«
»So wäre es doch nicht!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kann … ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss, so viele Jahre lang.« Wir schweigen lange. »Ich werde nichts ohne dich entscheiden«, verspreche ich ihm dann.
»Ich habe dir gesagt, was ich denke«, erklärt Dinny. »Es würde ihnen nicht helfen, ihn jetzt so zu sehen. Und wir brauchen keine Hilfe.«
Er schüttelt den Kopf und blickt traurig drein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich Dinny traurig mache. Ich strecke die Hand über den Tisch und verschränke die Finger mit seinen.
»Was du für uns, für Beth getan hast – dass du die Schuld auf dich genommen hast … das ist eine gewaltige Sache, Dinny. Du hast etwas Gewaltiges getan«, sage ich leise. »Danke dir.«
»Bleibst du?«, frage ich ihn spät am Abend. Er antwortet nicht, sondern steht auf und wartet darauf, dass ich vorangehe. Ich werde ihn nicht mit in Merediths Zimmer nehmen. Ich entscheide mich für ein Gästezimmer im obersten Stock, unter dem Dachboden des Hauses, wo die Betten kalt sind von der langen Zeit ohne warme Körper und wo die Bodendielen unter unseren Schritten knarren. Die Stille bringt auch uns dazu, leise zu sein, und die Nacht vor dem vorhanglosen Fenster taucht uns in Schattierungen von Silbergrau, während wir uns ausziehen. Meine Haut hebt sich seiner Berührung entgegen, die winzigen Härchen recken sich nach ihm. Er wirkt in diesem farblosen Licht so dunkel, sein Gesicht wie ein tiefer Schatten, den ich nicht durchdringen kann. Ich küsse ihn auf den Mund, presse die Lippen auf seine, sauge ihn in mich auf. Ich will, dass kein bisschen Luft mehr zwischen uns ist, dass kein Teil meines Körpers von seinem unberührt bleibt. Ich will mich um ihn winden wie Efeu, wie ein Seil, das uns aneinanderbindet. Er hat keine Tätowierungen, keine Piercings, keine Narben. Er ist ganz, vollkommen, perfekt. Ich spüre seine Handflächen rau an meinem Rücken. Er fährt mir mit einer Hand durchs Haar und biegt meinen Kopf
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